Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Anspruch einer pflegebedürftigen Heimbewohnerin gegen die Krankenkasse auf Zurverfügungstellung eines Multifunktionsrollstuhls. unmittelbarer Behinderungsausgleich. allgemeine Grundbedürfnisse. körperlicher Freiraum
Orientierungssatz
1. Gegenstand des Behinderungsausgleichs im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs 1 S 1 SGB 5 sind nach der Rechtsprechung des BSG zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Organfunktionen dienen (vgl BSG vom 19.4.2007 - B 3 KR 9/06 R = BSGE 98, 213 = SozR 4-2500 § 33 Nr 15, BSG vom 17.1.1996 - 3 RK 16/95 = SozR 3-2500 § 33 Nr 20 und BSG vom 17.1.1996 - 3 RK 38/94 = SozR 3-2500 § 33 Nr 18).
2. Wird eine Organfunktion durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche, sondern nur noch für bestimmte Lebensbereiche weitergehend ausgeglichen, so kommt es nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen (vgl BSG vom 3.11.1999 - B 3 KR 3/99 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 34 und BSG vom 6.8.1998 - B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 29). Denn der Behinderungsausgleich iS des § 33 Abs 1 S 1 SGB 5 umfasst auch Hilfsmittel, welche die direkten und indirekten Folgen der Behinderung ausgleichen, wenn ihr Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (vgl BSG vom 19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R aaO und BSG vom 16.9.2004 - B 3 KR 19/03 R - BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7).
3. Zu derartigen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (vgl BSG vom 19.4.2007 - B 3 KR 9/06 R aaO, BSG vom 10.11.2005 - B 3 KR 31/04 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 10 und BSG vom 23.7.2002 - B 3 KR 3/02 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 46).
4. Zum körperlichen Freiraum gehört - iS eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang “an die frische Luft zu kommen„ oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind, nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (vgl BSG vom 7.10.2010 - B 3 KR 13/09 R = BSGE 107, 44 = SozR 4-2500 § 33 Nr 31).
5. Ein pflegeversicherungsrechtlicher und heimvertraglicher Anspruch auf Pflege steht dem krankenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Versorgung mit einem eigenen Multifunktionsrollstuhl nicht entgegen, wenn das Hilfsmittel regelmäßig auch außerhalb des Pflegeheimes und des Heimgeländes benötigt wird.
Tenor
I. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 07. Dezember 2010 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin hat auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Beschwerdegegnerin begehrt im Wege vorläufigen Rechtsschutzes die Versorgung mit einem Multifunktionsrollstuhl.
Die am …1920 geborene Beschwerdegegnerin ist bei der Beschwerdeführerin gesetzlich krankenversichert. Die Beschwerdegegnerin lebt in einer vollstationären Pflegeeinrichtung (H… Straße 9, 09557 F…), ihre Angehörigen wohnen etwa 300 m von dieser Pflegeeinrichtung entfernt (Z… 16, 09557 F…). Die Beschwerdegegnerin bezieht Leistungen nach der Pflegestufe III. Sie leidet unter Altersschwäche und Demenz, zeitweise treten Verwirrtheitszustände auf. Es bestehen schwere geistige Einschränkungen. Ausweislich des Gutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 04.01.2010 kam im Sakralbereich ein Dekubitus (Stadium II) hinzu. In der vollstationären Pflegeeinrichtung stehen unter anderem ein Standardrollstuhl und ein Pflegerollstuhl zur Verfügung. Die Gutachterin, MDK-Pflegekraft W…-K…, teilte mit, mit der Beschwerdegegnerin sei eine eingeschränkte Kommunikation möglich. Die Wahrnehmung komplexer Vorgänge sei erschwert, “Sinnzuordnung„ jedoch vorhanden. Die Beschwerdegegnerin sei im Rollstuhl sitzend angetroffen worden.
Am 03.05.2010 beantragte sie bei der Beschwerdeführerin die Versorgung mit einem Multifunktionsrollstuhl und legte hierzu eine Verordnung vom 28.04.2010 von Dr. Sch…, Fachärztin für Allgemeinmedizin, vor. Ausweislich des beigefügten Kostenvoranschlages vom 03.05.2010 beliefen sich die Kosten für den Multifunktionsrollstuhl auf 1.100,00 EUR. Die Sanitätshaus H,,, GmbH bestätigte - ebenfalls unter dem 03.05.2010 -, dass die Beschwerdegegnerin in einem Multifunktionsrollstuhl über längere Zeit sitzen könne. Damit sei eine wesentlich bessere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglich.
Anlässlich eines Hausbesuchs am 18.05.2010 teilte die Hilfsmittel-...