Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Eingliederungshilfe. Anspruch auf einen Schulbegleiter bei coronabedingter Hausbeschulung. Abgrenzung zur allgemeinen Aufsichtspflicht der Eltern. innerfamiliäre Hilfsmöglichkeiten. zusätzliche Aufsichts- und Hilfsbedarfe wegen einer Behinderung. behinderungsbedingte Benachteiligung. Trennung von Lern- und Betreuungsbedarf. sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Rechtsschutzbedürfnis. Begrenzung des Antrags auf das laufende Schuljahr. Eilbedürftigkeit. konkrete Wahrscheinlichkeit einer erneuten Hausbeschulung. Kostenvorschusspflicht der Eltern. Möglichkeit des einstweiligen Rechtsschutzes auch vor Antragstellung bei der Behörde. Sachdienlichkeit einer Antragsänderung auch bei Verzögerung des Rechtsstreits
Leitsatz (amtlich)
Zum Anspruch auf Unterstützung durch einen Schulbegleiter im Wege der Eingliederungshilfe im sog "Homeschooling" während coronabedingten Schulschließungen.
Orientierungssatz
1. Es kann ein Anspruch auf eine Schulbegleitung für eine Hausbeschulung bestehen, wenn eine dem Alter des Kindes entsprechende Aufsicht der Eltern (wie bei Kindern ohne Behinderung) nicht genügt, sondern wegen zusätzlicher Aufsichts- und Hilfsbedarfe eine behinderungsbedingte Benachteiligung abgewendet werden muss.
2. Trotz der Heranziehung innerfamiliärer Hilfsmöglichkeiten im Rahmen der Prüfung der Eingliederungshilfe (zB in BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 18/12 R = FEVS 66, 5), sind Eltern von behinderten Kindern jedenfalls nicht verpflichtet, ihre berufliche Tätigkeit einzuschränken oder aufzugeben, um die Tätigkeit eines Schulbegleiters in der Schule zu übernehmen (vgl auch BVerwG vom 10.9.1992 - 5 C 7/87 = NVwZ-RR 1993, 198).
3. Ein Bedarf für die Schulbegleitung besteht aber nur dann, wenn tatsächlich die im Homeschooling gestellten Lernaufgaben erledigt werden müssen, nicht hingegen, wenn lediglich ein Betreuungsbedarf überbrückt werden soll.
4. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Schulbegleitung im Rahmen einer Hausbeschulung kann sich regelmäßig nur auf das laufende Schuljahr erstrecken.
5. Für einen entsprechenden Antrag für das noch laufende Schuljahr fehlt es an der erforderlichen Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund), wenn die behinderte Schülerin wieder am Präsenzunterricht teilnimmt und zwischen dem Tag der Entscheidung im Eilverfahren (hier 12.7.2021) und dem Beginn der Sommerferien (hier 23.7.2021) nicht mehr mit einer Schulschließung oder Abmeldung vom Präsenzunterricht wegen Infektionsgefahren zu rechnen ist.
6. Es besteht keine Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) für eine einstweilige Anordnung auf Übernahme der Kosten für eine Schulbegleitung durch den Träger der Eingliederungshilfe, wenn die Eltern in der Lage (und aufgrund ihrer Unterhaltspflicht dazu verpflichtet) sind, zur Aufrechterhaltung der Schulbegleitung die Kosten hierfür einstweilen vorzuschießen (vgl OVG Münster vom 21.8.2001 - 12 B 582/01 = NVwZ-RR 2002, 583).
7. Einstweiliger Rechtsschutz kann auch vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens und ausnahmsweise sogar schon vor einem Antrag bei der Verwaltung beantragt und bewilligt werden, wenn die Sache sehr eilig ist und der Antragsteller - hier: aufgrund vorheriger grundsätzlicher Ablehnungen der Behörde - mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, bei der Verwaltung kein Gehör zu finden (vgl LSG Schleswig vom 23.2.2018 - L 5 KR 20/18 B ER = Breith 2018, 514).
8. Eine Antragsänderung kann auch dann nach § 99 SGG sachdienlich sein, wenn hierdurch neue Beteiligtenerklärungen oder Beweiserhebungen veranlasst sind, die eine Erledigung des Rechtsstreits verzögern.
Tenor
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 18. März 2021 wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Übernahme künftiger Kosten für einen Schulbegleiter während coronabedingter Hausbeschulung im Wege der Eingliederungshilfe.
Die 2011 geborene Antragstellerin leidet an einem kaudalen Regressionssyndrom, einer angeborenen komplexen körperlichen Behinderung (kurze muskelarme Beine, Hüft- und Kniebeugekontrakturen, Klumpfüße, Fehlbildung des Beckens mit beidseitiger Hüftdysplasie, Fehlbildung der Wirbelsäule mit Skoliose, teilweise Versteifung, teils Halb- und Schmetterlingswirbelbildung, Lähmung des Zwerchfells, Fehlbildung des Darmausganges und neurologisch bedingter Blasen- und Darmentleerungsstörungen). Ihr wurde ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen G, aG, B und H zuerkannt. Sie erhält von der Pflegekasse Pflegegeld in Höhe von 545 EUR monatlich (Pflegegrad 3).
Die Antragstellerin ist eine gute Schülerin. Ihre kognitive und sprachliche Entwicklung ist altersgerecht. Derzeit besucht sie die 4. Klasse der F..... Ab dem kommenden Schuljahr wird die Antragstellerin auf ein Gymnasium in...