Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der PKH-Beschwerde. Nichterreichen des Beschwerdewertes der Berufung in der Hauptsache. Anwendbarkeit des § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beschwerde gegen erstinstanzliche PKH-Beschlüsse ist nicht statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes von 750,00 € nicht erreicht ist.
2. Der Beschwerdeausschluss folgt aus § 172 Abs 1 iVm § 73a Abs 1 Satz 1 SGG und § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO.
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG gelten die Vorschriften der ZPO über die PKH entsprechend. Nach § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO findet gegen die Ablehnung von PKH die sofortige Beschwerde statt. Dies gilt nicht, wenn der Streitwert der Hauptsache den in § 511 ZPO genannten Betrag nicht übersteigt, es sei denn, das Gericht hat ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH verneint. Nach § 144 Abs 1 SGG - der dem den Beschwerdewert der Berufung regelnden § 511 Abs 2 Nr 1 ZPO entspricht - bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde der Zulassung durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 € (Nr 1) oder bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000,00 € (Nr 2) nicht übersteigt, soweit die Berufung nicht wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
§ 127 Abs 2 Satz 2 ZPO ist sowohl nach dem Wortlaut als auch dem systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck der genannten Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwenden.
3. Bei der Wortauslegung der Norm bildet der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, dem besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes und dem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn den Ausgangspunkt und bestimmt zugleich die Grenze der Auslegung (Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, S 163 ff).
Die in § 73a Abs 1 Satz 1 SGG angeordnete "entsprechende" Geltung der ZPO-Vorschriften schließt die Anwendung auch des § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO nicht aus, sondern fordert diese als nicht eingeschränkte Verweisung geradezu, ohne sie an weitere Voraussetzungen zu knüpfen. Für die von § 73a Abs 1 Satz 1 SGG erfasste "entsprechende" Anwendung des § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO bedarf es daher auch nicht einer "planwidrigen gesetzgeberischen Lücke" wie sie für die analoge Anwendung von Vorschriften erforderlich ist. Sofern der Gesetzgeber des SGG die Anwendung einzelner Regelungen eines in Bezug genommenen Regelungsbereiches ausschließen wollte, hat er das - wie etwa in § 60 Abs 1 Satz 1 SGG oder in § 118 Abs 1 SGG - ausdrücklich getan.
Da die Vorschriften der ZPO gemäß § 73a SGG nur entsprechend anzuwenden sind, ist die Verweisung auch nicht etwa deshalb infrage zu stellen, weil § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO lediglich § 511 ZPO in Bezug nimmt, nicht aber § 144 SGG. Erkennbarer Sinn und Zweck der Regelung ist, die Beschwerde dann auszuschließen, wenn in der Hauptsache die zweite Instanz durch Berufung wegen eines geringen Beschwerdewerts nicht erreicht werden kann. Die "entsprechende", sinngemäße Anwendung impliziert daher die Heranziehung des § 144 SGG anstelle des § 511 ZPO im Bereich des SGG, sodass die PKH-Beschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen ist, wenn der in § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG genannte Beschwerdewert von 750,00 € nicht erreicht wird (LSG Celle-Bremen vom 15.7.2008 - L 12 B 18/07 AL = Breith 2008, 906).
4. Die systematische Auslegung der Norm führt zum selben Ergebnis. Insbesondere steht § 172 Abs 3 SGG diesem Ergebnis nicht entgegen. Diese Vorschrift enthält keine spezielle - die Vorschriften der ZPO verdrängende - Regelung über einen Beschwerdeausschluss im sozialgerichtlichen Verfahren. Dagegen spricht schon der systematische Zusammenhang der Regelung. Nach § 172 Abs 1 SGG findet gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte die Beschwerde an das Landessozialgericht statt, "soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist". Damit eröffnet die Norm ausdrücklich abweichende - eine Beschwerde ausschließende - Regelungen im gesamten SGG. Wäre die in § 172 Abs 3 SGG genannte Aufzählung von Ausschlusstatbeständen dagegen abschließend, hätte in § 172 Abs 1 SGG etwa die Formulierung "soweit nicht in Absatz 3 anderes bestimmt ist" nahegelegen.
5. Die telelogische Auslegung, nach der Rechtssätze im Rahmen ihres möglichen Wortlauts so auszulegen sind, dass Wertungswidersprüche vermieden werden, die folglich auf eine ausgewogene Regelung abzielt (Larenz/Canaris, aaO, S 155), spricht ebenfalls dafür, dass § 127 Abs 2 Satz 2 ZPO auch im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist. Zielsetzung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (juris: SGG/ArbGGÄndG) wa...