Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Beschwerdeverfahren: Anwendung von § 159 Abs 1 Nr 2 SGG. Umfang des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Angemessenheit einer richterlichen Frist
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zurückverweisungsregelung des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG ist im Beschwerdeverfahren analog anwendbar.
2. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst über das bloße Äußerungsrecht hinaus auch das Recht, Lücken im Sachverhalt schließen oder Schwächen in Bezug auf Tatsachen ausräumen zu dürfen und hierfür die erforderlichen Unterlagen oder Belege vorlegen zu können. Wenn das Gericht sich veranlasst sieht, Ermittlungen von Amts wegen anzustellen, und es als sachdienlich erachtet, dabei einen Beteiligten heranzuziehen, ist diesem ausreichend Zeit zu geben, seiner prozessualen Mitwirkungspflicht nachkommen zu können.
Orientierungssatz
Zur Frage der Angemessenheit einer richterlichen Frist.
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 12. Juni 2014 aufgehoben und der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Dresden zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts Dresden vorbehalten.
Gründe
I.
Die Beschwerde des Antragstellers vom 18. Juni 2014, die gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 12. Juni 2014 gerichtet ist, mit dem der Antrag auf vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung wegen fehlender Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs abgelehnt wurde, ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung an das Sozialgericht in analoger Anwendung von § 159 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Satz 2 SGG kann die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen werden, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Diese im Berufungsverfahren angesiedelte Regelung ist im Beschwerdeverfahren analog anwendbar (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 23. Februar 2009 - L 3 B 740/08 AS-PKH - JURIS-Dokument Rdnr. 2 m. w. N.). Eine derartige Zurückverweisung ist auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich zulässig (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. November 2006 - L 18 B 1037/06 AS ER - JURIS-Dokument Rdnr. 2; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. März 2009 - L 3 AS 148/09 B ER - JURIS-Dokument Rdnr. 14; Schlesw.-Holst. LSG, Beschluss vom 18. November 2011 - L 5 KR 202/11 B ER - JURIS-Dokument Rndr. 6; Bay. LSG, Beschluss vom 16. Mai 2013 - L 10 AL 129/13 B ER - JURIS-Dokument Rndr. 10; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, [10. Aufl., 2012], § 159 Rdnr. 1).
Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Denn dem Antragsteller wurde vor dem Erlass des Beschluss vom 12. Juni 2014 nicht ordnungsgemäß rechtliches Gehör gewährt.
Gemäß § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, der in Artikel 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verankert ist, garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 153/02 - NVwZ 2003, 859 = JURIS-Dokument Rdnr. 28, m. w. N.). Der Anspruch besteht aus drei Elementen: dem Recht auf Information, dem Recht auf Äußerung und dem Recht auf Berücksichtigung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, [10. Aufl., 2012], § 62 Rdnr. 6, m. w. N.). Das Recht auf Information beinhaltet den Anspruch, über die entscheidungserheblichen Tatsachen, gegebenenfalls auch zu rechtlichen Gesichtspunkten (vgl. hierzu: Keller, a. a. O., Rdnr. 8 ff.) unterrichtet zu werden. Denn der Beteiligte kann sein rechtliches Gehör nur in Anspruch nehmen, wenn er die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte kennt (vgl. Keller, a. a. O., Rdnr. 9). Das Recht auf Äußerung gebietet, dass der Beteiligte ausreichend Zeit erhalten muss, um sich zu den Punkten, zu denen rechtliches Gehör zu gewähren ist, äußern zu können. Eine vom Gericht gesetzte Frist muss ausreichend sein. Welche Maßstäbe hierbei zu beachten sind, hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem im Beschluss vom 5. Februar 2003 ausgeführt. Danach wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn die vor Erlass der Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zu...