Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtswidrigkeit. Freizügigkeitsrechte. Gleichbehandlungsgrundsatz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausschlusstatbestand des Art 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 verstößt gegen höherrangiges Recht, nämlich Art 18 und 21 AEUV bzw den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 (juris: EGV 883/2004).

2. Zu unterscheiden ist die europarechtliche Regelung zum Aufenthaltsrecht von Bürgern eines Mitgliedsstaates im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union in der Richtlinie 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) von der europarechtlichen Regelung zum Zugang von Bürgern eines Mitgliedsstaats zu den sozialen Sicherungssystemen eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union in der EGV 883/2004. § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 hat die aufenthaltsrechtliche Regelung des Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004 in nationales Sozialrecht umgesetzt. Falls es sich - wofür die Entscheidung des EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 spricht - bei Leistungen nach dem SGB 2 nicht um "Sozialhilfe" iS des Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004 handelt, mangelt es § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 an einer europarechtlichen Rechtfertigungsnorm. Für den Fall, dass Leistungen nach dem SGB 2 "Sozialhilfe" iS der Richtlinie sind, liegt ein Verstoß gegen Art 4 EGV 883/2004 vor.

 

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 24. August 2012 abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 01.02.2013 bis 28.02.2013 i.H.v. 567,00 EUR und für den Zeitraum vom 01.03.2013 bis 31.03.2013 i.H.v. 267,00 EUR - längstens bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragsstellers für das Beschwerdeverfahren zu zwei Siebtel.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 02.08.2012.

Der 1979 geborene, alleinstehende Antragsteller ist irischer Staatsangehöriger. Er ist als Doktorand an der Universität P… (Polen) tätig. Für die Zeit des Doktorandenstudiums in Polen erhält er von der Universität P… ein Doktorandenstipendium, dass jedoch für die Zeit eines Aufenthalts im Ausland ausgesetzt wird (Bescheinigungen der Universität P… vom 17.09.2009 und 04.05.2010). Spätestens am 05.07.2011 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seither bewohnt er in L… ein 14 qm großes Appartement zum Preis von 185,00 EUR in der Studentenwohnanlage G. Straße 181. Die monatlichen Gesamtmietkosten belaufen sich auf 185,00 EUR. Der Antragsteller verfügt seit 05.07.2011 über eine Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU). Der Lehrstuhl von Prof. Dr. S… der Universität L… betreut den Forschungsaufenthalt des Antragstellers in L…. Im Wintersemester 2011/2012 und Sommersemester 2012 übte der Antragsteller einen Lehrauftrag an der Universität L… aus, wofür er jedoch kein Honorar erhielt. Seit 01.10.2012 geht der Antragsteller einer (zunächst) bis 31.03.2013 befristeten Tätigkeit als Dozent im Umfang von 5 Stunden im Monat nach und erzielt hieraus monatlich 100,00 EUR. Das Arbeitsentgelt für Oktober bis Dezember 2012 floss dem Antragsteller im Januar 2013 und das für Januar bis März am Ende des Wintersemesters zu. Zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes erhielt er im August und September 2012 ein Privatdarlehen i.H.v. monatlich 250,00 EUR und von Oktober 2012 bis Januar 2013 ein solches i.H.v. 500,00 EUR monatlich. Aus dem vorgelegten Darlehensvertrag über 500,00 EUR monatlich geht hervor, dass das Darlehn ab 01.01.2014 zu tilgen ist. Im Zeitraum von 01.08.2011 bis 31.07.2012 erhielt der Antragsteller zur Finanzierung seiner Miete einen Mietzuschuss der irischen Regierung i.H.v. monatlich 185,00 EUR.

Nach Vorsprachen am 05.07.2011, 18.10.2011 und 17.01.2012 beim Antragsgegner wegen Arbeitsvermittlung und Inanspruchnahme von Leistungen beantragte der Antragsteller am 17.01.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Am 25.01.2012 schloss er mit dem Antragsgegner eine Eingliederungsvereinbarung ab. Am 14.02.2012 und 03.04.2012 sprach er erneut beim Antragsgegner vor. Mit Bescheid vom 16.03.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Der Antragsteller befinde sich in einer Ausbildung, die dem Grunde nach nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) förderungsfähig sei. Mithin greife der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 und 6 SGB II. Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Antragstellers vom 04.04.2012. Er befinde sich nicht in einer förderfähigen Ausbildung. Den W...

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