Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung der Vollstreckung. aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels: keine Anwendbarkeit des § 154 Abs 2 SGG auf Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezüglich Leistungsgewährung für Zeiten vor Erlass des angefochtenen Urteils
Leitsatz (amtlich)
In Verfahren nach dem SGB 2 hat das Rechtsmittel eines Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende auch insoweit keine aufschiebende Wirkung, als es Leistungen betrifft, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen.
Orientierungssatz
§ 154 Abs 2 SGG gilt nach seinem Wortlaut nur für Rechtsmittel eines Versicherungsträgers oder (in der Kriegsopferversorgung) eines Landes. Soweit die Auffassung vertreten wird, § 154 Abs 2 SGG sei für alle Leistungsträger in den der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebieten anwendbar und deshalb weit auszulegen, weil die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck den laufenden Unterhalt eines Leistungsempfängers sicherstellen solle und dies für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht möglich sei, folgt der Senat dem nicht.
Tenor
I. Der Antrag vom 11. August 2010 auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem mit der Berufung angefochtenen Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 15.07.2010 - S 18 AS 4100/09 wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Aussetzungsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Leipzig (SG) vom 15.07.2010 ist statthaft und zulässig.
Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, d. Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Die Statthaftigkeit des Antrags setzt voraus, dass das eingelegte Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat und ein vollstreckbarer Titel i. S. d. § 199 Abs. 1 SGG vorliegt.
Die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgenden: Beklagte) hat keine aufschiebende Wirkung. Gemäß § 154 Abs. 1 SGG haben die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG (gemeint ist § 145 Abs. 1 SGG, vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 9. Auflage 2008, § 154 RdNr. 1) aufschiebende Wirkung, soweit die Klage nach § 86a SGG Aufschub bewirkt. Letztere Vorschrift regelt in Abs. 1 u.a., dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, Abs. 2 benennt zahlreiche Ausnahmen hiervon. Da die Klägerin im Verfahren vor dem SG Leistungen im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage begehrt hat (§ 54 Abs. 1, 4 SGG), hat hiernach die Berufung der Beklagten keine aufschiebende Wirkung. Die Vorschrift des § 154 Abs. 2 SGG ist nicht einschlägig.
Gemäß § 154 Abs. 2 SGG bewirken die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 SGG (§ 145 Abs. 1 SGG, s.o.) eines Versicherungsträgers oder in der Kriegsopferversorgung eines Landes Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen . Vorliegend ist zwar die Beklagte mit dem Urteil des SG vom 15.07.2010 verurteilt worden, der Klägerin und Berufungsbeklagten (im Folgenden: Klägerin) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 11.08.2009 bis zum 31.03.2010 in Höhe von monatlich 454,62 EUR, somit für Zeiten vor Erlass des angefochtenen Urteils, zu erbringen, wobei jedoch nach Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das SG vom 14.12.2009 vorläufige Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 26.11.2009 bis 31.03.2010 bereits erbracht worden sind.§ 154 Abs. 2 SGG gilt aber nach seinem Wortlaut nur für Rechtsmittel eines Versicherungsträger oder (in der Kriegsopferversorgung) eines Landes. Soweit in der Kommentarliteratur überwiegend die Auffassung vertreten wird, § 154 Abs. 2 SGG sei für alle Leistungsträger in den der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Gebieten anwendbar und deshalb weit auszulegen, weil die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck den laufenden Unterhalt eines Leistungsempfängers sicherstellen solle und dies für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht möglich sei (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 154 RdNr. 3 m.w.N.), folgt der Senat dem nicht. Denn zum einen dürfte es an der für eine analoge Anwendung des § 154 Abs. 2 SGG auf die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende erforderlichen ungewollten Gesetzeslücke fehlen, da der Gesetzgeber zwar mit Wirkung vom 01.08.2006 die Träger der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 75 Abs. 2, 5 SGG aufgenommen (Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006, BGBl I 1706), diese Änderung jedoch nicht zum Anlass genommen hat, auch § 154 Abs. 2 SGG entsprechend anzupassen. Insbesondere besteht jedoch keine gleichartige Interessenlage, soweit es um Leistunge...