Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiederaufnahme des Verfahrens. Wiederaufnahmegrund der in einem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertretenen Partei. Feststellung der Wirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts im Rechtsmittelverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Der Wiederaufnahmegrund des § 579 Abs 1 Nr 4 ZPO erfasst (insbesondere) die fehlende Vertretung einer wegen Prozessunfähigkeit vertretungsbedürftigen Partei (Anschluss an BVerwG vom 17.12.2009 - 2 A 2/08 = Buchholz 235.1 § 71 BDG Nr 1).
2. Der Wiederaufnahmegrund des § 579 Abs 1 Nr 4 ZPO erfasst auch Fälle, in denen einer Partei die Handlungen vollmachtloser Vertreter nicht zugerechnet werden dürfen (Anschluss an BGH vom 5.5.1982 - IVb ZR 707/80 = BGHZ 84, 24).
3. Die Frage, ob der in einer mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärte Rechtsmittelverzicht wirksam ist oder aber wirksam widerrufen wurde, ist in einem Rechtsmittelverfahren zu beantworten (Anschluss an BGH vom 19.2.2008 - 3 StR 23/08).
Normenkette
SGG § 73 Abs. 6, § 73a Abs. 1 S. 1, § 179 Abs. 1; ZPO § 119 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 2; GKG § 35; BRAO § 48 Abs. 2; ZPO § 578
Tenor
I. Die Wiederaufnahmeklage gegen das Urteil des Senats vom 9. April 2015 wird verworfen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin erstrebt die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens Az. L 3 AL 55/12.
Mit Urteil vom 9. April 2015 hat der Senat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 6. Dezember 2011 (Az. S 9 AL 766/09), mit dem ihr Begehren auf Verpflichtung der Beklagten auf Bewilligung einer Kraftfahrzeugbeihilfe abgewiesen worden war, zurückgewiesen. Nach Verkündung des Urteilstenors in der mündlichen Verhandlung vom 9. April 2015 haben sowohl die für die Klägerin erschienene Rechtsanwältin … als auch die Beklagtenvertreterin den Verzicht auf Rechtsmittel erklärt. Das nach § 136 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe abgefasste Urteil ist der Klägerin am 15. April 2015 zugestellt worden.
Mit Telefax vom 13. April 2015 hat die Klägerin den Widerruf des durch Rechtsanwältin … erklärten Rechtsmittelverzichts erklärt. Die Rechtsanwältin habe keine Bevollmächtigung gehabt und sei durch sie, die Klägerin, nicht ermächtigt gewesen. Sie habe keine Vollmacht erteilt und verweise auf § 73 Abs. 6 SGG.
Mit Telefax vom 14. April 2015 hat die Klägerin die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt und sich auf § 179 SGG i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 4 Zivilprozessordnung (ZPO) berufen. Es habe keine Bevollmächtigung bestanden. Sie sei daher im Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen. Rechtsanwältin … habe wissentlich entgegen ihres ausdrücklichen Willens gehandelt.
Mit weiterem Telefax vom 14. April 2015 hat Rechtsanwältin … mitgeteilt, dass sie von der Klägerin nicht zur Abgabe eines Rechtsmittelverzichts bevollmächtigt gewesen sei. Dies ergebe sich schon aus dem Umstand, dass sie keine schriftliche Vollmacht zur Akte gereicht habe. Dies stelle einen Mangel des Verfahrens im Sinne von § 73 Abs. 6 SGG dar, so dass die abgegebene Erklärung unwirksam sei. Vorsorglich widerrufe sie den am 9. April 2015 zu Protokoll gegebenen Rechtsmittelverzicht.
Mit Telefax vom 5. Mai 2015 hat die Klägerin mitgeteilt, dass ihr "eine Zusammenarbeit mit Rechtsanwältin … wegen des massiven Vertrauensbruchs nicht mehr zumutbar" sei. Sie nehme daher ihre Rechte jetzt selber wahr. Schriftverkehr sei an sie selbst zu richten. Vorsorglich beantrage sie die Aufhebung der (mit Beschluss vom 23. Juli 2014 im Rahmen der Prozesskostenhilfe erfolgten) Beiordnung der Rechtsanwältin im Verfahren Az. L 3 AL 55/12.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Senats vom 9. April 2015 aufzuheben und die Beklagte entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung vom 9. April 2015 gestellten Antrag zu verurteilen, der Klägerin eine Kraftfahrzeughilfe zu gewähren.
Die Beklagte und die beiden Beigeladenen, die Gelegenheit zur Stellungnahme hatten, haben keine Anträge gestellt.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens sowie des zugehörigen Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Das Gericht entscheidet gemäß § 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens.
II. Die Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens in der Gestalt der Nichtigkeitsklage ist unzulässig und daher zu verwerfen.
Nach § 179 Abs. 1 SGG i. v. m. § 578, § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO findet die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahrens statt, wenn die Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat. Der Wiederaufnahmegrund erfasst (insbesondere) die fehlende Vert...