Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme des Bewilligungsbescheides. Überzahlung durch Einkommensschwankungen. keine vorläufige Bewilligung. Vertrauensschutz. fehlende Ermessensentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Liegen die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 S 3 SGB 10 nicht vor und kommt daher § 330 Abs 2 SGB 3 trotz § 40 Abs 1 S 2 SGB 2 nicht zur Anwendung, so kann die Rücknahme einer rechtswidrigen Leistungsbewilligung auch als Ermessensentscheidung erfolgen, wenn und soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs 2 S 1 SGB 10 vorliegen. Zu ermitteln ist dann zum einen, ob der Begünstigte tatsächlich auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat (subjektives Element) und zum anderen ob sein Vertrauen in Abwägung mit dem öffentlichen Rücknahmeinteresse schutzwürdig ist (objektives Element).
Orientierungssatz
1. Hat der Grundsicherungsträger weder im Verfügungssatz noch in der Begründung des Bewilligungsbescheides den Terminus einer "vorläufigen Leistungsbewilligung" verwendet und auch nicht auf die maßgebenden Regelungen des § 40 Abs 1 S 2 Nr 1a SGB 2 iVm § 328 SGB 3 oder des § 42 SGB 1 verwiesen, sondern nur darauf hingewiesen, dass aufgrund der Einkommensschwankungen nach Ablauf des Bewilligungszeitraums und Vorlage der Verdienstbescheinigungen eine Überrechnung des Leistungsanspruchs unter Berücksichtigung des tatsächlichen Einkommens erfolgen wird, so liegt keine vorläufige, sondern eine endgültige Entscheidung vor.
2. Eine solche endgültige Bewilligung kann nicht gem § 48 SGB 10 aufgehoben, sondern nur gem § 45 SGB 10 zurückgenommen werden.
Tenor
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 16. August 2011 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten auch im Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.01.2009 bis 31.05.2009.
Die 1961 geborene Klägerin zu 1 lebt mit ihrer Tochter, der 1994 geborenen Klägerin zu 2, und dem 1958 geborenem Kläger zu 3 in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen. Sie beziehen seit 2005 laufend Leistungen vom Beklagten. Sie bewohnen ein 1998 errichtetes, eigenes Haus mit einer Wohnfläche von 132 m², das mit einem SAB-Kredit und BHW-Darlehen finanziert ist. Eigentümer des Wohngrundstücks mit einer Grundstücksgröße von 423 m² ist der Kläger zu 3, dem das Grundstück von seinen Eltern übertragen worden war. Er ist bei der Deutschen Bahn AG beschäftigt und erzielt monatlich Einkommen in unterschiedlicher Höhe. Für die Klägerin zu 2 wurde im hier streitigen Zeitraum Kindergeld in Höhe von 154,00 € monatlich gezahlt.
Am 30.10.2008 beantragten die Klägerin zu 1 und der Kläger zu 3 für die Bedarfsgemeinschaft die Fortzahlung von Leistungen und legten mit dem Antrag einen Nachweis für die jährliche Diensthaftpflichtversicherung des Klägers zu 3 (85,36 € fällig am 01.01.2009), den Kontostand zum Pensionsvertrag des Klägers zu 3 für das Jahr 2007, den Beleg über die Kfz-Haftpflichtversicherung von jährlich 145,38 € sowie Einkommensbescheinigungen für den Kläger zu 3 für die Monate April 2008 bis September 2008 vor, aus denen sich Auszahlungsbeträge zwischen 1.475,00 € und 1.713,00 € ergeben (im Durchschnitt 1.532,40 €), die jeweils am 25. des laufenden Monats fällig waren. Daraufhin bewilligte der Beklagte unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Monatseinkommens von 1.500,00 € abzüglich 30,00 € Versicherungspauschale und 9,40 € Kfz-Haftpflichtversicherung sowie unter Berücksichtigung eines Erwerbstätigenfreibetrages von 301,33 € mit Bescheid vom 20.11.2008 für die Zeit vom 01.12.2008 bis 31.05.2009 monatliche Leistungen in Höhe von 157,19 € für die Bedarfsgemeinschaft. Für Unterkunft und Heizung legte der Beklagte auf der Grundlage von Jahresdurchschnittswerten einen anerkannten Bedarf vom 554,74 € zugrunde. Auf die Klägerin zu 1 entfielen Leistungen (für Kosten der Unterkunft und Heizung) in Höhe von 59,54 €, auf den Kläger zu 3 in Höhe von 59,53 € und auf die Klägerin zu 2 in Höhe von 37,32 €. Als Zahlungsempfänger ist die Klägerin zu 1 ausgewiesen.
Aus der Überschrift oder dem Verfügungssatz des Bescheides ergibt sich kein Hinweis auf eine Vorläufigkeit der Bewilligung. In der Begründung des Bescheides heißt es unter der Überschrift "Wichtige Erläuterung/Hinweise zu Ihrem Bescheid":
"Aus den vorgelegten Verdienstbescheinigungen für Juli bis September ist ersichtlich, dass das monatliche Einkommen Ihres Partners in der Höhe differiert. Um Überzahlungen zu vermeiden, habe ich deshalb, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, das bisher angerechnete Einkommen der Leistungsberechnung weiterhin zugrunde gelegt. Unabhängig davon reichen Sie uns bitte weiterhin bei schwankendem Einkommen monatlich die Verdienstbescheinigung ein. Nach Ablauf des aktuellen Bewilligungsabschnit...