Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Kosten der Wahrnehmung des Umgangsrechts der Großeltern mit ihrem Enkelkind. Schutz durch Art 6 Abs 1 GG. atypischer Bedarf nach dem Tod der Kindesmutter
Leitsatz (amtlich)
1. Der Schutz der Familie nach Art 6 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) schließt auch familiäre Bindungen zwischen nahen Verwandten, insbesondere zwischen Großeltern und ihrem Enkelkind, ein.
2. Der Umgang von Großeltern mit ihren Enkelkindern ist in der Regel eine im Rahmen der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Kontakte typische und auch für Bezieher von Grundsicherungsleistungen regelmäßige Bedarfslage, so dass ein Mehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II für den Umgang von Großeltern mit ihren Enkelkindern grundsätzlich nicht besteht.
3. Zu einer atypischen Bedarfslage, wenn die Großmutter die Mutter der Kinder (hier nach deren Tod) als engste Bezugsperson ersetzt hat und faktisch in deren Rolle eingetreten ist.
Normenkette
SGB II § 21 Abs. 6, § 20; BGB § 1685 Abs. 1, § 1626 Abs. 3 S. 1; GG Art. 6 Abs. 1; BRKG § 5 Abs. 1
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 12. Mai 2016 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 16. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2015 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 18. Februar 2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 20. März 2014 sowie des Bescheides vom 7. Juli 2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 3. Dezember 2014 für die Zeit vom 1. März 2014 bis zum 31. Januar 2015 weitere Leistungen in Höhe von insgesamt 275,52 EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Klageverfahren zu ½ und im Berufungsverfahren zu ¾ zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen des Bezugs von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) über die mit Bescheid vom 16. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Juni 2015 abgelehnte Übernahme von Fahrkosten, die im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts der Klägerin mit ihren beiden Enkeltöchtern in der Zeit vom 1. März 2014 bis zum 31. Januar 2015 entstanden sind.
Die 1960 geborene, in A... (Landkreis B...) wohnende Klägerin bezog im streitbefangenen Zeitraum vom Beklagten Arbeitslosengeld II. Sie ist Großmutter der am 26. Oktober 2011 geborenen X... und der am 19. Februar 2003 geborenen W... Die Enkelkinder, bei denen es sich um Halbgeschwister handelt, lebten zunächst bei ihrer allein sorgeberechtigten Mutter, der Tochter der Klägerin. Nachdem diese am 7. September 2013 verstarb, zog die Klägerin vorübergehend mit ihren beiden Enkeltöchtern in eine gemeinsame Wohnung und versorgte diese.
Ende Februar 2014 informierte die Klägerin den Beklagten unter anderem über einen Beschluss des Amtsgerichts B... (Familiengericht) vom 4. Februar 2014, wonach dem leiblichen Vater der Enkeltochter X... das elterliche Sorgerecht übertragen worden war. Das Kind zog am 7. März 2014 zu seinem Vater in die V... Straße in U... und die Klägerin daraufhin zum 1. April 2014 mit ihrer Engeltochter W... zurück in ihre alte Wohnung.
Mit Bescheid vom 18. Februar 2014 bewilligte ihr der Beklagte Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. März 2014 bis zum 31. Juli 2014 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende in Höhe von monatlich 140,76 EUR. Mit Änderungsbescheid vom 20. März 2014 hob der Beklagte diesen Bewilligungsbescheid teilweise auf und verminderte ab April 2014 unter anderem den anerkannten Mehrbedarf für Alleinerziehende hinsichtlich der Enkeltochter W... auf monatlich 46,92 EUR. Mit Bescheid vom 7. Juli 2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 3. Dezember 2014 bewilligte der Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. August 2014 bis zum 31. Januar 2015.
Mit Beschluss vom 16. Juni 2014 (Az. 302 F 1763/14 eA) sprach das Amtsgericht U... (Familiengericht) der Klägerin im Wege einer einstweiligen Anordnung ein Umgangsrecht hinsichtlich des Enkelkindes X... für zunächst insgesamt 8 Umgangstermine zu, ordnete zugleich zur Sicherstellung des Umgangs eine Umgangspflegschaft an und bestellte eine Umgangspflegerin. Zur Begründung führte das Familiengericht aus, dass in dem völlig abrupten Abbruch des Kontaktes des Kindes zu seinen engsten Bezugspersonen und seinem gewohnten Umfeld eine Kindeswohlgefährdung zu sehen sei. Das Kind habe zunächst den unerwarteten plötzlichen Verlust seiner Mutter als engste Bezugsperson erleiden müssen und sei danach aus dem vertrauten Umfeld der gemeinsamen Wohnung mit seiner Halbschwester und der Großmutter mütterlicherseits, in der es bereits mit der Mutter zusammengelebt habe, gerissen worden. Dadurch habe das Kind innerhalb von etwa einem halben Ja...