Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorrangige Sozialleistungen. Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger Altersrente. Ermessensfehlgebrauch. Unbilligkeit. Beachtung der fachlichen Weisungen der BA durch zugelassenen kommunalen Träger. allgemeiner Gleichheitssatz. bevorstehende abschlagsfreie Altersrente. keine starre Begrenzung des Zeitraums auf 3 Monate

 

Orientierungssatz

1. Eine Aufforderung zur Beantragung der vorzeitigen Altersrente gemäß § 12a S 1 iVm § 5 Abs 3 SGB 2 - hier durch einen zugelassenen kommunalen Träger - erfolgt ermessensfehlerhaft, wenn die Beachtung der fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) dazu führen würde, dass eine Unbilligkeit gemäß § 6 UnbilligkeitsV anzuerkennen wäre. Anderen falls liegt eine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG vor.

2. Ungeachtet dessen ergibt sich ein Ermessensfehlgebrauch bereits daraus, dass die Optionskommune bei der Anwendung des § 3 UnbilligkeitsV zu Unrecht davon ausgeht, dass die "nächste Zukunft" im Sinne dieser Norm auf einen Zeitraum von 3 Monaten begrenzt ist.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 24.06.2020; Aktenzeichen B 4 AS 26/20 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 22.05.20018 sowie der Bescheid des Beklagten vom 27.06.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 aufgehoben.

II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung, die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters zu beantragen.

Die 1954 geborene Klägerin bezog mit ihrem Ehemann, der regelmäßig Einnahmen aus einer selbständigen Tätigkeit erzielt, fortlaufend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Beide bewohnen ein Eigenheim in A. Aufgrund ihrer Schwerbehinderung erfüllte die Klägerin, die am 18.05.2017 das 63. Lebensjahr vollendete, ab dem 01.02.2015 die Voraussetzungen für den Bezug einer vorzeitigen Altersrente für schwerbehinderte Menschen (mit Abschlägen). Zum 01.02.2018 erfüllte sie die Voraussetzungen für den Bezug einer abschlagsfreien Altersrente für schwerbehinderte Menschen, die ausweislich der Probeberechnung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 14.07.2016 monatlich 711,95 € betragen würde. Die Regelaltersrente, die ab dem 01.02.2020 bezogen werden könnte, würde ausweislich der Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 29.06.2017 monatlich 707,96 € betragen.

Mit Schreiben vom 25.07.2016 informierte der Beklagte die Klägerin darüber, dass grundsätzlich die Möglichkeit bestünde, die Klägerin nach Vollendung des 63. Lebensjahres auf die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente zu verweisen. Vorbehaltlich der noch auszuübenden Ermessensabwägung sei davon auszugehen, dass im Falle der Klägerin vorrangige Leistungen durch den Bezug einer vorzeitigen Altersrente ab Juni 2017 in Anspruch zu nehmen wären. Mit Schreiben vom 01.06.2017 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass beabsichtigt sei, sie zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufzufordern. Die Klägerin nahm hierzu Stellung und äußerte sich dahingehend, dass eine vorzeitige Altersrente nicht in Anspruch genommen werden könne, da das Klageverfahren gegen die Deutsche Rentenversicherung wegen Erwerbsunfähigkeitsrente noch nicht abgeschlossen sei und damit die tatsächliche Höhe einer vorgezogenen Altersrente noch nicht feststehe. Durch Bescheid vom 27.06.2017 forderte der Beklagte die Klägerin auf, bis zum 15.07.2017 eine vorzeitige Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu beantragen. Sollte die Klägerin der Aufforderung nicht nachkommen, werde der Beklagte diesen Antrag stellen. Die vom Beklagten vorzunehmende Ermessensabwägung habe bereits im Rahmen der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente zu erfolgen. Eine Aufforderung zur Rentenantragstellung könne erfolgen, wenn kein Ausschlusstatbestand entsprechend §§ 2 - 6 der Unbilligkeitsverordnung einschlägig sei und auch kein besonderer Härtefall vorliege. Im Falle der Klägerin könne insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass in nächster Zukunft eine ungeminderte Altersrente bezogen werden könne. Diese Ausnahme liege nur dann vor, wenn die Altersrente innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten abschlagsfrei bezogen werden könne. Es seien keine Tatsachen bekannt, die die Annahme einer Unbilligkeit nach §§ 2, 4 und 5 UnbilligkeitsVO oder eines besonderen Härtefalles rechtfertigten. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch hat die Klägerin ausgeführt, 70% ihrer zu erwartenden vorzeitigen Altersrente lägen um 77,20 € unter dem Gesamtbedarf einschließlich KV/PflV-Beiträgen, bei ihr liege wegen des bereits länger gerichtlich anhängigen Verfahrens über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente und der angesichts dessen noch nicht feststehenden Rentenhöhe sowie wegen der Tatsache, dass sie o...

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