Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Anforderungen an die Verwaltungsaktenführung. Amtsermittlungspflicht des Leistungsträgers. Verletzung rechtlichen Gehörs. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente
Leitsatz (amtlich)
1. Ein im Verwaltungsverfahren Beteiligter hat keinen Anspruch darauf, dass eine Verwaltungsakte in einer bestimmten Weise, zum Beispiel chronologisch, geordnet geführt wird, oder dass sie blattiert oder paginiert wird.
2. Eine ungeordnete oder unvollständige Verwaltungsakte kann lediglich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein: Zum einen kann eine solche Akte darauf hindeuten, dass die Behörde ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X nicht nachgekommen ist oder zumindest die entscheidungserheblichen Fakten nicht aktenkundig gemacht hat. Zum anderen kann eine ungeordnete oder unvollständige Verwaltungsakte auch den Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzen. In beiden Fällen muss ein entsprechender Mangel aber vom Verfahrensbeteiligten substantiiert gerügt und nicht nur ins Blaue hinein behauptet werden.
Orientierungssatz
Zur Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gemäß §§ 5 Abs 3, 12a SGB 2 iVm der UnbilligkeitsV.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichtes Chemnitz vom 28. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 28. Februar 2020, mit welchem ihre Klage, gerichtet gegen die Aufforderung des Beklagten, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, abgewiesen wurde.
Die 1955 geborene, alleinstehende Klägerin erzielte ein monatliches Arbeitseinkommen in Höhe von 100,00 EUR und bezog seit längerem vom Beklagten ergänzend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Mit Bescheid vom 12. April 2017 bewilligte ihr der Beklagte für Mai 2017 bis April 2018 Arbeitslosengeld II. Die Leistungshöhe belief sich zuletzt auf Grund der Änderungsbescheide vom 24. April 2018 und 27. April 2018 auf 488,65 EUR für Januar 2018, auf 512,95 EUR für Februar 2018, auf 505,97 EUR für März 2018 und auf 502,45 EUR für April 2018. Für den Folgezeitraum bewilligte er ihr mit Bescheid vom 24. April 2018 (in der Fassung der Änderungsbescheide vom 6. August 2018 und 23. August 2018) 492,29 EUR für Mai 2018, 488,65 EUR für Juni 2018, 610,65 EUR für Juli 2018, je 488,65 EUR für August und September 2018 sowie je 441,65 EUR für Oktober 2018 bis April 2019.
Auf die Aufforderung vom 12. Februar 2018 legte die Klägerin am 5. April 2018 eine Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland vom 22. März 2018 vor. Danach konnte die Klägerin eine Regelaltersrente ohne Abschlag ab dem 1. August 2021 in Höhe von monatlich 773,62 EUR beziehen, wenn der Berechnung ausschließlich die bisher gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten sowie der derzeit maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt wurden. Mit einem Rentenabschlag um 9,9 % könne eine Altersrente vorzeitig ab dem 1. November 2018 in Anspruch genommen werden.
Ausweislich eines Computervermerks des Beklagten vom 18. Juni 2018 hörte er die Klägerin in einem Gespräch zur Inanspruchnahme einer geminderten Altersrente an. Die Berechnungsgrundlagen seien benannt worden. Die Klägerin habe derzeit nicht die Absicht, eine solche Rente in Anspruch zu nehmen, weil sie finanzielle Nachteile befürchte. Sie werde zunächst einen Termin mit dem Rentenversicherungsträger vereinbaren und den Sachverhalt besprechen. Wegen der Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter, die zu Hause betreut werde, könne noch keine Aussage zu einer Terminvereinbarung getroffen werden. Die Klägerin werde über das Ergebnis des Gesprächs mit dem Rentenversicherungsträger sofort informieren. Eine neue Terminvereinbarung sei getroffen worden. Eine Einladung erfolge zeitnah postalisch.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2018 forderte der Beklagte die Klägerin auf, eine geminderte Altersrente zu beantragen und dies bis zum 21. Juli 2018 nachzuweisen. In der Begründung stellte er die maßgebenden Rechtsgrundlagen dar und kam zu dem Ergebnis, dass kein Ausnahmefall im Sinne der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung - UnbilligkeitsV) vorliege. Auch werde die Klägerin nicht hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter. Außerdem machte der Beklagte Ausführungen zu seiner Ermessensentscheidung.
Nachdem die Klägerin zunächst um eine dreimonatige Fristverlängerung gebeten hatte, um sich anwaltlich beraten zu lassen, legte der nunmehr mandatierte Klägerbevollmächtigte am 6. August 2018 Widerspruch gegen die Aufforderung ein. Die beantragte Akteneinsicht wu...