Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorrangige Sozialleistung. Aufforderung zur Beantragung der vorzeitigen Altersrente. keine Anwendbarkeit von § 6 UnbilligkeitsV nF bei vor dem 1.1.2017 erlassenen Widerspruchsbescheiden. Übergang der Antragsbefugnis auf Grundsicherungsträger. Wegfall der Antragsbefugnis nach Aufhebung des angefochtenen Aufforderungsbescheids. Pflicht des Grundsicherungsträgers zur Rücknahme des ersatzweisen Rentenantrags. Grundsicherungsträger als Prozessstandschafter. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. § 6 UnbilligkeitsV ist auf Fälle, in denen der Widerspruchsbescheid bis zum 31.12.2016 ergangen ist, nicht anwendbar.
2. Für eine Rückwirkung von § 6 UnbilligkeitsV auf Zeiten vor dessen Inkrafttreten fehlt es an einer Sonderregelung.
3. Grundsätzlich bedarf es, wenn ein Jobcenter einen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aufgefordert hat, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen, das Jobcenter diesen Antrag nach erfolglosen Fristablauf ersatzweise für den Leistungsberechtigten gestellt hat und der Aufforderungsbescheid angefochten ist, keines weiteren, auf die Verpflichtung des Jobcenters zur Rücknahme des ersatzweise gestellten Antrages gerichteten Rechtsschutzverfahrens. Denn wenn auf eine Anfechtungsklage des Leistungsberechtigten hin der Aufforderungsbescheid des Jobcenters aufgehoben wird, ist eine der Voraussetzungen für die Befugnis des Jobcenters, ersatzweise einen solchen Antrag stellen zu dürfen, entfallen. In einem solchen Fall ist das Jobcenter auf Grund seiner Bindung an Gesetz und Recht verpflichtet, von selbst und nicht erst auf gerichtliche Anordnung hin den Rentenantrag zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn gerügt wird, die Rentenantragstellung sei aus formellen Gründen unwirksam, weil dieser Einwand nicht Prüfungsgegenstand der die behauptete Rechtswidrigkeit des Aufforderungsbescheides betreffenden Anfechtungsklage ist.
4. Mit der Befugnis nach § 5 Abs 3 S 1 SGB II, Anträge auf andere Sozialleistungen stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen zu können, verschafft der Gesetzgeber dem Jobcenter die Stellung eines Prozessstandschafters.
5. Der von einem Jobcenter für einen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ersatzweise gestellte Antrag auf eine andere, vorrangige Sozialleistung ist kein Verwaltungsakt.
6. Es ist einem Leistungsberechtigten verwehrt, den von einem Jobcenter für ihn gestellten Antrag auf vorzeitige Altersrente eigenmächtig zurückzunehmen.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 20. September 2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 20. September 2016, mit welchem ihre Klage, gerichtet gegen die Aufforderung des Beklagten, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, und dem hilfsweise Begehren festzustellen, dass die ersatzweise Beantragung der vorzeitigen Altersrente durch den Beklagten rechtswidrig war, abgewiesen wurde.
Die 1951 geborene, alleinstehende Klägerin war erwerbslos und bezog seit längerem vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Mit Bescheid vom 20. März 2014 bewilligte ihr der Beklagte für die Zeit vom 1. April 2014 bis zum 30. September 2014 Leistungen in Höhe von 695,60 EUR (= 391,00 EUR [Regelbedarf] + 304,60 EUR [Kosten für Unterkunft und Heizung]).
Am 13. Juni 2014 erhielt der Beklagte vom Rentenversicherungsträger unter Verweis auf die Rentenauskunft vom 4. Juni 2014 die Mitteilung, dass die Klägerin am 14. Dezember 2016 die Regelaltersgrenze erreiche. Die Regelaltersrente belaufe sich auf 785,68 EUR, von der die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von 64,43 EUR und 16,11 EUR in Abzug zu bringen seien. Ab dem 1. August 2014 könne sie abschlagsfrei eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen und ab dem 1. August 2016 abschlagsfrei sowohl eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit als auch eine Altersrente für Frauen beziehen. Frühester Rentenbeginn mit einem Rentenabschlag sei der 1. August 2011. Die Inanspruchnahme dieser vorzeitigen Altersrente zu dem genannten Zeitpunkt würde zu einer Minderung der Rente um 18,0 % führen.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2014 forderte der Beklagte die Klägerin auf, bis spätestens zum 31. Juli 2014 einen Antrag auf Altersrente zu stellen. Nach den ihm vorliegenden Unterlagen habe sie Anspruch auf eine geminderte Altersrente.
Hiergegen legte die Klägerin am 16. Juli 2014 Widerspruch ein und rügte, dass der Beklagte keine Ermessenentscheidung getroffen und ihren Einzelfall nicht ausreichend gründlich angesehen und abgewogen habe. Aufgrund der Abschläge sei ihre Altersrente mit 63 Jahren, die sich auf einen Betrag von etwa 650,00 EUR belaufen würde, nicht existenzsichernd und hätte zur Folg...