Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. GdB von 50. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Elektrosensibilität. "ähnliches Syndrom" iS des Teils B Nr 18.4 VMG. organische oder psychische Ursache. Finalitätsprinzip. Offenlassen der Ursache und des Funktionssystems bei gleichen funktionellen Auswirkungen. Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin zu Umweltkrankheiten. Schmerzverarbeitungsstörung bzw Körperfunktionsstörung ohne organischen Befund. Analogiebewertung zu den psychovegetativen oder psychischen Störungen. mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten. eigene Nutzung eines Handys
Orientierungssatz
1. Für die Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) kann dahinstehen, ob der behinderte Mensch unter organischen Einschränkungen aufgrund einer Elektrosensibilität leidet, oder ob er nur glaubt, darunter zu leiden, und aufgrund dessen organische Symptome entwickelt. In beiden Fällen zeigt sich aufgrund körperlicher Reaktionen bzw aus der Befürchtung, aufgrund von schädlicher Strahlung Schäden zu erleiden, die Vermeidung von Exposition und damit zwangsläufig verbunden soziales Rückzugsverhalten.
2. Bei der Elektrosensibilität handelt es sich um ein "ähnliches Syndrom" iS des Teils B Nr 18.4 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV).
3. Eine Entscheidung, ob es sich bei Einschränkungen aufgrund geltend gemachter Elektrosensibilität (bzw Multichemikaliensensibilität oder chronischem Erschöpfungssyndrom) um organische Erkrankungen oder psychiatrische Erkrankungen handelt, ist entbehrlich, weil nach Teil B Nr 18.4 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) die Auswirkungen im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkung analog zu beurteilen sind.
4. Nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 25/26.11.1998 (Gutachtliche Beurteilung von Umweltkrankheiten) hat bei einem Krankheitsbild mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen, dem kein organischer Befund zugrunde liegt, eine Analogiebewertung zu den psychovegetativen oder psychischen Störungen (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Teil B Nr 3.7 VMG) zu erfolgen.
5. Allerdings können infolge einer Elektrosensibilität keine mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach Teil B Nr 3.7 VMG angenommen werden, wenn der behinderte Mensch keine wesentlichen Einschränkungen im familiären Bereich aufweist, seine berufliche Tätigkeit nicht krankheitsbedingt sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist und er selber ein Handy besitzt, das er gelegentlich nutzt.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 15.12.2021 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 40.
Mit nicht streitgegenständlichem Bescheid vom 19.08.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2016 hatte die Beklagte einen GdB von 20 festgestellt wegen des Teilverlustes der Brust rechts mit Narbenbeschwerden.
Am 18.12.2018 beantragte die 1958 geborene Klägerin die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft. Seit Sommer 2016 leide sie unter fast pulssynchronen Geräuschen zwischen dem rechten Ohr und dem Kieferbereich bis zur Halswirbelsäule. Die Geräusche würden im Lauf des Tages stärker und schmerzhafter, sie beeinträchtigten die Hörfähigkeit. Sie werde müde und könne sich nicht mehr konzentrieren. Hinzu komme eine Übelkeit. Die Symptome würden sich in der Nähe von Sendemasten und an Orten mit WLAN verstärken, sie könne Theater, Kino, Bibliothek, öffentliche Verkehrsmittel und Einkaufsmärkte nur mit Schmerzmitteln nutzen.
Der Beklagte lasse die eigentliche Erkrankung der Klägerin und die sich hieraus ergebenden erheblichen Einschränkungen für die Teilhabe am öffentlichen Leben unbeachtet. Die Klägerin leide an Elektrosensibilität bzw. sogar an Elektrohypersensibilität. Die Beeinträchtigungen durch elektromagnetische Wellen seien erheblich. Der Klägervertreter führt aus, dass niederfrequente Wellen den Körper ungehindert durchdringen könnten. Sie riefen dort ein elektrisches Wirbelfeld hervor, das bei ausreichender Stromdichte Nerven und Muskelzellen erregen könne. Hochfrequente elektromagnetische Felder würden vom Körper aufgenommen und drängen in Gewebe ein. Dabei werde ein Teil der im Feld gespeicherten Energie an im Gewebe vorhandene Ionen und Moleküle abgegeben, die dadurch ihren Bewegungs- und/oder Rotationszustand änderten. In der Nähe von Stromquellen träten bei der Klägerin Ohrgeräusche ähnlich wie bei einem Tinnitus auf. Sobald sich die Klägerin einem stärkeren elektromagnetischen Feld nähere, würden im Nacken zwischen der Wirbelsäule und der rechten Schulter sofort Schmerzen auftreten, hierdurch werde auch die Konzentration erheblich geschwäc...