Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufskrankheit. Kehlkopfkarzinom durch ionisierende Strahlung. Altfall DDR

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Neben der Überleitung von bis zum 31.12.1991 gezahlten Renten durch § 1154 RVO ist auch eine Entschädigung von DDR-Altfällen nach dem 01.01.1992 dadurch möglich, dass vor dem 01.01.1992 eingetretene Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, nicht nach § 1150 RVO als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des dritten Buches der RVO gelten, sondern auf Grund des Einigungsvertrages (Anl. II Kap. VIII Sachgeb. I Abschn. III Nrn. 4 und 5).

2. Die DDR-Verwaltungspraxis, Larynxkarzinome nicht nach der BK-Nr. 92 BKVO/DDR anzuerkennen, steht auch bei Anwendung von DDR-Recht einer Anerkennung nicht entgegen.

3. Wegen der offenen Formulierung der BKVO DDR Nr. 92 sind grundsätzlich alle bösartigen Neubildungen entschädigungsfähig. Hieraus folgt aber nicht, dass für jede Krebsentität neu ein epidemiologischer Nachweis geführt werden müsste, als gelte es, eine neue Quasi-Berufskrankheit zu statuieren.

 

Normenkette

BKVO DDR Nr. 92; AGB/DDR § 221; RVO § 1150 Abs. 2, § 1154

 

Verfahrensgang

SG Chemnitz (Aktenzeichen S 7 KN 330/98 U)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 18.08.2004; Aktenzeichen B 8 KN 2/03 U R)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass eine Klageabweisung im Übrigen entfällt.

II. Die Beigeladene hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

IV. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung eines Kehlkopfkarzinoms nach Einwirkung ionisierender Strahlung als Berufskrankheit.

Der am … Kläger arbeitete von November 1951 bis September 1956 als Schweißer unter Tage im Objekt 01 Schacht 13/18 bei der SAG/SDAG W. Dort war er für einen Zeitraum von 4,8 Jahren strahlenexponiert. Die kumulative Organdosis betrug 38,76 Sv (Sievert); die Exposition gegenüber Radon-Zerfallprodukten 551 WLM (working level months).

Im Jahr 1985 erkrankte er an einem Plattenepithelkarzinom des Kehlkopfs. Es erfolgte eine Therapie mit Bestrahlung und Radatio, am 03.04.1985 erfolgte die stationäre Entlassung in die Tumornachsorge mit der Diagnose „klinisch frei vom Tumor”. Als Folge der Behandlung verblieb eine Heiserkeit sowie eine chronische Laryngitis mit Stimmlippenödem und Mundtrockenheit infolge Mitbestrahlung der Speicheldrüsen.

Mit Schreiben vom 06.06.1991 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung des Larynxkarzinoms als Berufskrankheit. Die Beklagte leitete den Antrag an die nach dem Verteilungsschlüssel des Hauptverbandes der gewerbschaftlichen Berufsgenossenschaften (BG 1992, 352) für Altfälle zuständige Beigeladene weiter.

Diese holte ein Gutachten bei der HNO-Fachärztin Frau Dr. L. ein. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass die tätigkeitsbezogene kanzerogene Einwirkung der Radonfolgeprodukte bei dem Kläger über einen Zeitraum von sechs Jahren als wesentliche Teilursache des Larynxkarzinoms anzusehen sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 50 %.

Die ebenfalls mit einem Gutachten beauftragte Internistin Frau Dr. L. schloss sich dieser Beurteilung nicht an. Die Strahlenexposition reiche zwar aus, um die Verursachung eines Bronchialkarzinoms wahrscheinlich zu machen; im Gegensatz zur Schleimhaut der mittleren Bronchien sei allerdings die Schleimhaut der großen Bronchien, der Luftröhre und des Kehlkopfes so dick, dass die Alpha-Strahlen die Basalzellenschicht dieser Atemtraktabschnitte nicht erreichten. Auch seien die Kontaktzeiten dort wesentlich kürzer, so dass die Entwicklung von strahlenbedingten Krebszellen im Kehlkopfbereich wenig wahrscheinlich sei.

Nachdem auch Dr. K. die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Listen-Nr. 92 BKVO DDR abgelehnt hatte, da der gegenwärtige Stand der Kenntnisse nicht ausreiche, eine Kausalität wahrscheinlich zu machen, lehnte die Beigeladene den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 13.07.1993 ab. Der dagegen erhobene Widerspruch war erfolglos.

Mit Schreiben vom 09.10.1995 wandte sich der Kläger diesmal an die Beigeladene, welche nun ihrerseits den Vorgang an die Beklagte abgab. Die Beklagte reagierte zunächst mit einem Zwischenbescheid des Inhalts, dass zwar inzwischen das Gutachten „Risiko- und Verursachungswahrscheinlichkeit von extrapulmonalen Krebserkrankungen durch die berufliche Strahlenexposition von Beschäftigten der ehemaligen W. AG (Jacobi II)” vorliege, aber auch hiernach noch nicht eine Berechnung der konkreten Verursachungswahrscheinlichkeit möglich sei.

Die Beklagte führte nunmehr das Verfahren selbst durch und beauftragte Prof. Dr. A., B., welcher schon im Verfahren der Beigeladenen das – ablehnende – Gutachten von Frau Dr. L. bestätigt hatte, mit der Erstellung eines strahlenschutzmedizinischen Gutachtens.

Prof. A. legte seinen gut...

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