Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität. verfassungskonforme Auslegung. Sicherung des Existenzminimums
Leitsatz (amtlich)
Es sprechen überwiegende europarechtliche Gründe dafür, auf Unionsbürger die Ausschlussregelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 nicht anzuwenden. Jedenfalls sind EU-Bürgern im Rahmen einer Folgenabwägung bei fehlenden oder unzureichenden Bindungen in den Herkunftsstaat im Regelfall Leistungen nach dem SGB 2 in Höhe des Existenzminimums nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz (vgl BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 = info also 2012, 225) zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Itzehoe vom 21. Januar 2013 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 14. Januar bis 12. Mai 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 336,00 EUR monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin 4/5 der Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlung - unter Beiordnung von Rechtsanwalt ..., W..., gewährt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) als EU-Ausländerin.
Die am ... 1971 in der Slowakei geborene Antragstellerin ist slowakische Staatsangehörige und arbeitete nach ihrer Schulzeit in der Slowakei bis 2009 als Montiererin bei einem Autohersteller bzw. als Helferin in einem Restaurant und einem Geschäft. Im August 2009 oder (so die Informationen gegenüber dem Antragsgegner) im Januar 2010 zog sie mit ihrem damaligen Lebensgefährten direkt aus der Slowakei nach Deutschland und lebte mit ihm in einem Haushalt in Wedel als Hausfrau. Sie war finanziell von ihrem Partner abhängig, war weder arbeitslos gemeldet noch bezog sie Leistungen nach dem SGB II. Die Eltern der Antragstellerin in der Slowakei sind verstorben, verwandtschaftliche Kontakte hat sie nach ihrer eidesstattlichen Versicherung nicht mehr. Zu ihrer Schwester hat sie zwar noch Kontakt, diese aber lebt in der Ukraine.
Nachdem ihr Partner sie eingesperrt und körperlich misshandelt hatte, flüchtete die Antragstellerin Anfang November 2012 in ein Frauenhaus in Wedel. Mitte November 2012 meldete sie sich von ihrer früheren Adresse ab. Der Aufenthaltsort ihres früheren Lebensgefährten, der afghanischer Herkunft ist, ist unbekannt.
Am 13. November 2012 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Gleichzeitig meldete sie sich unter Darstellung ihrer bisherigen Berufsbiografie in der Slowakei als arbeitsuchend. Der Antragsgegner lehnte mit Bescheid vom 6. Dezember 2012 den Leistungsantrag ab, da die Antragstellerin lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik habe. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Über den dagegen am 20. Dezember 2012 von ihr selbst und am 10. Januar 2013 von ihrem Anwalt erhobenen Widerspruch hat der Antragsgegner bisher keine Entscheidung getroffen.
Am 14. Januar 2013 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Itzehoe einen Eilantrag gestellt und beantragt, ihr ab Antragseingang, längstens bis zum Ablauf des Bewilligungsabschnittes vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, dass weder ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II noch nach § 8 Abs. 2 SGB II greife. Sie habe ihren Aufenthalt nicht allein zum Zwecke der Arbeitsuche begründet, vielmehr lebe sie bereits seit rund drei Jahren in Deutschland und habe sich in häuslicher Gemeinschaft mit dem arbeitenden Lebensgefährten befunden. Außerdem widerspräche ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem europarechtlich streng ausgestalteten Gleichbehandlungsgebot, unter dessen persönlichen Geltungsbereich sie falle. Für sie als slowakische Staatsangehörige bestehe Freizügigkeit nach § 5 des Gesetzes über allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU), wobei unschädlich sei, dass eine solche Bescheinigung, die ohnehin nur deklaratorische Wirkung habe, nicht vorliege. Dem Anspruch stehe auch nicht § 8 Abs. 2 SGB II entgegen, da sie - zumindest nachrangig - einen Arbeitsmarktzugang habe.
Mit Beschluss vom 21. Januar 2013 hat das Sozialgericht Itzehoe den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin habe den Anordnungsanspruch nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Sie gehöre nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis in der Grundsicherung für Arbeitsuc...