Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen arbeitsuchenden Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz. Leistungsausschluss. Europarechtskonformität. Verbindung zum Arbeitsmarkt. Folgenabwägung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Angesichts der instanzgerichtlich und in der Literatur sehr umstrittenen und höchstrichterlich bislang nicht geklärten einfachrechtlichen und europarechtlichen Fragestellungen zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist im Eilverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen.

2. Hat der Antragsteller durch in der Vergangenheit ausgeübte Tätigkeiten eine Verbindung zum Arbeitsmarkt hergestellt, bestehen erhebliche Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses.

 

Orientierungssatz

1. Für einen Unionsbürger, der in verschiedenen kürzeren Beschäftigungen von weniger als einem Jahr tätig und im Anschluss daran arbeitsuchend war, kann ein automatischer Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen, weil er bereits in den Arbeitsmarkt eingetreten ist.

2. Bei ihm muss individuell geprüft werden, ob durch eine konkrete Beschäftigungssuche weiterhin eine Verbindung zu dem Aufnahmemitgliedstaat besteht.

3. Ihm sind infolgedessen bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen Leistungen der Grundsicherung durch einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 20

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Itzehoe vom 6. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner erstattet den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners und Beschwerdeführers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht dazu verpflichtet, den Antragstellern ab dem 4. Juni bis zum 31. August 2015 vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.

Die 1960 und 1962 geborenen Antragsteller, die polnische Staatsangehörige sind und seit August 2014 in Deutschland leben, haben ab Eingang des Eilantrags beim Sozialgericht unter Berücksichtigung der Maßstäbe eines Eilverfahrens nach Folgenabwägung einen Anspruch auf Gewährung vorläufiger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Anrechnung der Renteneinkünfte (rund 270,00 EUR/ monatlich) aus Polen.

Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG) und verweist ergänzend auf seinen früheren Beschluss vom 1. März 2013 (L 6 AS 29/13 B ER, juris).

Soweit sich der Antragsgegner zur Begründung seiner Beschwerde lediglich auf die Rechtsprechung eines Senats des LSG Berlin-Brandenburg und einer Kammer eines Sozialgerichts in Hessen beruft, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Ob ein endgültiger Anspruch vorliegt, kann im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend entschieden werden. Zumindest im Rahmen einer Folgenabwägung ist dem Sozialgericht Itzehoe angesichts der instanzgerichtlich und in der Literatur sehr umstrittenen und höchstrichterlich bislang nicht geklärten einfachrechtlichen und europarechtlichen Fragestellungen zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zu folgen (zur vergleichbaren Argumentation: LSG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 - L 2 AS 368/15 B ER; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30. Juni 2015 - L 4 AS 375/15 B ER -, Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2015 - L 25 AS 38/15 B ER -, jeweils juris). Im vorliegenden Verfahren spricht darüber hinaus viel dafür, dass der von den Antragstellern glaubhaft gemachte grundsätzliche Leistungsanspruch gem. § 20 SGB II nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II generell ausgeschlossen ist und auch im Rahmen einer - hier vom Antragsgegner nicht durchgeführten - Einzelfallprüfung gewichtige Aspekte für eine Leistungsberechtigung sprechen.

Der Antragsteller zu 1) hält sich zum Zwecke der Arbeitsuche in der Bundesrepublik auf und erfüllt damit als polnischer Staatsangehöriger die Tatbestandsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Es bestehen aber erhebliche Zweifel daran, dass der Leistungsausschluss in seinem Fall europarechtskonform ist, weil er durch die in der Vergangenheit von ihm ausgeübten Tätigkeiten eine Verbindung zum Arbeitsmarkt hergestellt hat. Der Antragsteller hat in der Zeit vom 24. August bis 28. November 2014 versicherungspflichtig als Helfer vollzeitig gearbeitet und Einkünfte in Höhe von rund 1.200,00 EUR monatlich erzielt. Auf die Arbeitnehmereigenschaft ihres Ehegatten kann sich auch die Antragstellerin zu 2) berufen. Der Beschwerdegegner hat die Arbeitnehmereigenschaft jedoch nur bis Ende Mai 2015 (also für ein weiteres halbes Jahr) aner...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge