Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Nichtvorliegen eines Daueraufenthaltsrechts. keine Verlängerung der Überbrückungsleistungen nach § 23 SGB 12

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Leistungsausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst b SGB II begegnet weder verfassungs- noch europarechtlichen Bedenken.

2. Gesetzeszweck und Gesetzesbegründung legen nahe, dass die in § 7 Abs 1 S 4 SGB II formulierte Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II nicht nur eine einmalige Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde voraussetzt (§ 7 Abs 1 S 5 SGB II), sondern ein durchgehendes Gemeldetsein im Bundesgebiet für die Dauer von mindestens fünf Jahren.

3. Im Rahmen der bei der Entscheidung nach § 86b Abs 2 SGG zu treffenden Folgenabwägung kann berücksichtigt werden, dass die um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nachsuchende Person bisher kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat und dass ihr gegenüber die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in Betracht kommt.

4. Ein Härtefall, der es rechtfertigen würde, Überbrückungsleistungen für mehr als einen Monat zu erbringen (§ 23 Abs 3 S 6 Halbs 2 SGB XII), ist trotz erheblicher chronischer Erkrankungen nicht anzuerkennen wenn Reisefähigkeit besteht.

 

Normenkette

SGB I § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 4; SGB XII § 23 Abs. 3 Sätze 5-6; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; FreizügG/EU § 4a Abs. 1 S. 1; SGG § 86b Abs. 2, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 21. März 2018 wird zurückgewiesen. Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss geändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insgesamt abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die vorläufige Zahlung existenzsichernder Leistungen.

Der am ... 1959 geborene Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er war zwischen dem 14. und 20. November 2012 und dem 28. November und 6. Dezember 2012 in D.  gemeldet, in der Zeit vom 20. bis 28. November 2012 in M. . Zum 6. Dezember 2012 wurde er als nach unbekannt verzogen vom Oberbürgermeister der Stadt D.  von Amts wegen abgemeldet. In den letzten Jahren hat sich der obdachlose Antragsteller in K.  aufgehalten und hat im November 2013 dort eine Verkaufserlaubnis für das Straßenmagazin “H. „ erhalten. Seit März 2017 ist für ihn eine Betreuerin bestellt.

Einen ersten Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 21. August 2017 und Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2017 mit der Begründung ab, dass der Antragsteller über kein Aufenthaltsrecht verfüge.

Zwischen dem 13. Januar und dem 1. März 2018 befand sich der Antragsteller wegen einer akuten Thrombose und einer beginnenden Pneumonie in stationärer Krankenhausbehandlung. Aus dieser wurde er in chronisch reduziertem Allgemeinzustand mit den Diagnosen Alkohol-Intoxikation, dekompensierte Leberzirrhose, Herzinsuffizienz, Coxarthrose beidseitig sowie Zustand nach Gelenkspunktationen im Bereich der linken Hüfte entlassen.

Bereits am 19. Januar 2018 hatte der Antragsteller sowohl einen neuen Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen beim Antragsgegner als auch einen Antrag auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt bei der Beigeladenen gestellt und zur Begründung vorgetragen, dass er sich seit mehr als sieben Jahren in Deutschland aufhalte, davon über fünf Jahre in K. .

Die Beigeladene lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Februar 2018 mit der Begründung ab, dass der Antragsteller dem Grunde nach zum leistungsberechtigten Personenkreis der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehöre. Soweit er nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) von diesen Leistungen ausgeschlossen sei, bestehe seit dem 29. Dezember 2016 auch kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt mehr. Der Antragsgegner entschied über den bei ihm gestellten Antrag zunächst nicht.

Am 4. März 2018 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Kiel um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht, gerichtet auf die Zahlung laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Er hat insbesondere eidesstattliche Versicherungen von zwei Mitarbeitern des Straßenmagazins H.  beigebracht. Danach sei der Antragsteller diesen Mitarbeitern seit Ende 2012 bekannt und fast täglich bei H.  im Café gewesen.

Mit Beschluss vom 5. März 2018 hat das Sozialgericht die Landeshauptstadt Kiel beigeladen und diese mit Beschluss vom 21. März 2018 unter Ablehnung des Antrags im Übrigen dazu verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 4. März bis 30. Mai 2018, längstens jedoch bis zu seiner Ausreise aus Deutschland, vorläufig Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper...

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