Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer. Unionsbürger. Verlust des Freizügigkeitsrechts durch Feststellung der Ausländerbehörde. Nichtvorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts. Wirkung von Widerspruch oder verwaltungsgerichtlicher Klage gegen die Verlustfeststellung. Suspensiveffekt. keine Beseitigung der Wirksamkeit der Verlustfeststellung oder der Ausreisepflicht. Bindung an förmliche behördliche Feststellung. kein Anspruch auf Asylbewerberleistungen. sozialhilferechtliche Überbrückungsleistungen in besonderen Härtefällen. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Hat die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gem § 5 Abs 4 FreizügG/EU (juris: FreizügigG/EU 2004) eines Unionsbürgers festgestellt, entfällt der Leistungsanspruch nach dem SGB II. Dies gilt auch dann, wenn gegen die Verlustfeststellung Widerspruch bzw verwaltungsgerichtliche Klage erhoben wurde, da die aufschiebende Wirkung nur die sofortige Ausreisepflicht nach § 7 Abs 1 S 1 FreizügG/EU suspendiert, nicht jedoch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts wieder aufleben lässt.
2. Es kann offenbleiben, ob das AsylbLG auf Unionsbürger überhaupt anwendbar ist. Sofern aufgrund der Suspensivwirkung keine Ausreisepflicht besteht, sind die Voraussetzungen von § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG iVm § 3 AsylbLG jedenfalls nicht erfüllt (entgegen LSG Essen vom 16.3.2020 - L 19 AS 2035/19 B ER).
3. Es ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten, grundsätzlich Unionsbürgern, die ihr Freizügigkeitsrecht verloren haben, existenzsichernde Leistungen in Deutschland zu gewähren, da sie innerhalb der europäischen Union in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen im Rahmen der sozialen Mindeststandards nach der europäischen Sozialcharta (juris: EuSC) erlangen können.
4. Für besondere Härtefälle sind Überbrückungsleistungen gegebenenfalls auch für einen längeren Zeitraum nach § 23 Abs 3 S 6 SGB XII möglich.
Tenor
Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 8. Juni 2021 abgeändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in vollem Umfang abgelehnt. Die Beschwerde der Antragsteller wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt P., Kiel, gewährt.
Gründe
I.
Streitig ist die vorläufige Verpflichtung zur Gewährung von existenzsichernden Leistungen bei Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU. Die Antragsteller wenden sich gegen den erstinstanzlichen Beschluss, weil vorläufige Leistungen nach Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) einschließlich des Krankenversicherungsschutzes abgelehnt wurden. Die Beigeladene wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die einstweilige Verpflichtung, den Antragstellern vorläufig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die 2000 geborene Antragstellerin zu 1) ist Mutter der im 2014 und 2016 geborenen Antragsteller zu 2) und 3). Die Antragstellerin zu 1) reiste im Februar 2018 alleine in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und arbeitete zunächst im Umfang von 25 Stunden wöchentlich, später 87,4 Stunden monatlich. Ihre Kinder, die Antragsteller zu 2) und 3), folgten im Mai 2019. Ab Juni 2019 verringerte die Antragstellerin zu 1) daraufhin ihre Arbeitszeit auf 31,5 Stunden monatlich. Ab Januar 2020 lag ihr monatlicher Verdienst nur noch bei 90 €, die Kündigung erfolgte zum 30. März 2020 aus betrieblichen Gründen. Ab Februar 2021 nahmen die Antragsteller an einer Förderung des Antragsgegners für schwer erreichbare Menschen und bei der Hilfe zum Alltagsleben teil. Für die Antragsteller zu 2) und 3) wird derzeit Unterhaltsvorschuss in monatlicher Höhe von 232,- € bzw. 174,- € sowie von der Familienkasse Kindergeld in monatlicher Höhe von jeweils 219,00 € gewährt. Seit dem 17. Juni 2021 ist die Antragstellerin zu 1) nach einem erstmals am 5. Juli 2021 im Beschwerdeverfahren eingereichten Arbeitsvertrag mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von 16,25 Stunden wöchentlich erneut beschäftigt. Die Antragsteller sind mittellos.
Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern fortlaufend Leistungen nach dem SGB II. Für die Zeit vom 1. März 2021 bis zum 30. November 2021 bewilligte der Antragsgegner Leistungen in Höhe von monatlich 954,56 € (Bewilligungsbescheid vom 3. November 2020 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 21. November 2020, 27. November 2020 und 9. Februar 2021).
Durch Bescheid vom 4. Februar 2021 wurde von der Beigeladenen der Verlust des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts der Antragsteller festgestellt. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2021 mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Antragstellerin zu 1) zwar Arbeitnehmerin gewesen sei...