rechtskräftig: ja

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

existenzsichernde Leistungen. Mittelgebühr. Normalfall. Interessen. objektive Betrachtung. Fotokopien. sachgemäße Interessenwahrnehmung. Darlegungslast

 

Leitsatz (amtlich)

1) Ein Streit um existenzsichernde Leistungen löst im Normalfall die Mittelgebühr nach § 116 Abs. 1 BRAGO aus.

2) Ein Normalfall liegt vor, wenn der Anwalt in einem vergleichbaren Zivilrechtsstreit drei Gebühren erzielt hätte.

3) Ob eine Gebühr über oder unter der Mittelgebühr zuzugestehen ist, hängt nach § 12 Abs. 1 BRAGO von den Interessen des Anwalts und seines Mandanten ab, die aus der Gesamtschau eines objektiven Betrachters gegeneinander abzuwägen sind.

4) Entsteht der Verdacht, dass die Zahl der aus den Akten gefertigten Fotokopien nicht zur sachgemäßen Interessenwahrnehmung nötig war, muss der Anwalt die Notwendigkeit darlegen (Umkehr der Darlegungslast).

 

Normenkette

BRAGO § 116 Abs. 1, § 12 Abs. 1, § 126 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Schleswig (Beschluss vom 28.12.2002; Aktenzeichen S 2 SF 13/00 SK)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 28. Dezember 2002 aufgehoben.

Über den Betrag von 858,40 DM hinaus ist dem Antragsteller nichts zu erstatten.

 

Gründe

Mit Beschluss vom 11. August 1999 gewährte das Sozialgericht dem Kläger des Verfahrens S 7 RJ 53/99 Prozesskostenhilfe mit Ratenzahlung und ordnete den Antragsteller als Prozessbevollmächtigten bei. In dem Verfahren ging es um eine Rente wegen Erwerbsminderung. Es endete in der ersten Instanz nach Vernehmung zweier medizinischer Sachverständiger mit dem klagabweisenden Urteil vom 18. Juli 2000.

Mit Antrag vom 7. August 2000 machte der Antragsteller u.a. eine Gebühr nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) in Höhe von 1.000,00 DM geltend. Die Kostenbeamtin gestand dem Antragsteller nur die Mittelgebühr in Höhe von 700,00 DM zu. Außerdem entschied sie, dass die Kosten für 151 Kopien aus der Verwaltungsakte nicht erstattungsfähig seien. Der Antragsteller habe nicht mitgeteilt, weshalb diese Kopien notwendig gewesen seien (Beschluss vom 31. August 2000).

Auf die Erinnerung hiergegen äußerte sich der Geschäftsleiter des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts als Vertreter der Landeskasse am 21. September 2000. Entgegen dessen Rechtsauffassung setzte das Sozialgericht Schleswig mit Beschluss vom 28. Dezember 2002 fest, dass der Antragsteller Anspruch auf die Gebühr von 1.000,00 DM habe. Rentenstreitigkeiten wie der anhängig gewesene hätten existenzielle Bedeutung und ragten daher nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für den Kläger aus der Menge der übrigen Streitigkeiten beim Sozialgericht heraus. Ihm seien auch die Kosten für die 151 Fotokopien zu erstatten. Es spreche nichts dafür, dass diese Kosten unnötig gewesen seien.

Gegen diesen Beschluss hat der Vertreter der Landeskasse am 28. Januar 2003 Beschwerde eingelegt und auf seine bisherige Stellungnahme verwiesen. Der Antragsteller hat sich am 11. Februar 2003 geäußert. Auf die umstrittene Entscheidung und die gewechselten Schriftsätze wird im Übrigen Bezug genommen. Dem Senat liegen die Streit- und die Prozesskostenhilfeakte vor.

Die rechtzeitige Beschwerde ist begründet.

Dem Antragsteller sind außer den bereits gezahlten 858,40 DM keine weiteren Beträge zu erstatten. Das ergibt sich aus den §§ 116 i.V.m. 12 und 126 BRAGO. Diese Vorschriften sind den Beteiligten bekannt, so dass auf sie verwiesen werden kann.

Das Sozialgericht führt aus, das Landessozialgericht betrachte als Normalfall in der Sozialgerichtsbarkeit den Streit um eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese Behauptung negiert die schon immer differenzierende Betrachtung des Landessozialgerichts. Deshalb stellt der Senat nochmals seine grundsätzlichen Erwägungen dar:

Aufgabe des Gesetzgebers war es, für die der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesene Menge der Sozialrechtsstreitigkeiten ein angemessenes Kostenrecht zu gestalten. Sozialrechtsstreitigkeiten drehen sich fast ausschließlich um Leistungen, die als Mittel der sozialstaatlichen Daseinsfürsorge gedacht sind und ihren Empfängern zu den vom Grundgesetz geforderten erträglichen Lebensbedingungen verhelfen sollen. Solche Streitigkeiten sind für den betroffenen Personenkreis grundsätzlich von großer Wichtigkeit. Deshalb müssen solche Leistungen kostengünstig zu erstreiten sein – auch wenn ein Rechtsanwalt beauftragt wird.

Der Gesetzgeber hat seine Aufgabe gelöst, indem er den Gebührenrahmen des § 116 Abs. 1 BRAGO geschaffen und dessen Ausfüllung dem Rechtsanwalt überlassen hat. Der Anwalt ist derjenige, der dem Leistüngsempfänger am nächsten steht und dessen Verhältnisse am besten überblickt. Ein Gebührenrahmen geht davon aus, dass es ganz einfache, leicht zu bearbeitende und wenig bedeutungsvolle Streitigkeiten gibt. Für sie ist an der unteren Grenze des Rahmens die angemessene Gebühr zu finden. Er akzeptiert aber auch, dass es sehr schwierige, sehr umfangreiche und höchst bedeutungsvolle Ver...

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