Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Widerlegung der Mindestmengenprognose eines Krankenhausträgers. fehlende Anhörung. Nichteinhaltung der Formvorgaben des § 33 Abs 3 SGB 10. erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Prognose müssen sich auf das maßgebliche Kalenderjahr beziehen
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Widerlegung einer Mindestmengenprognose nach § 136b Abs 5 S 6 SGB V kommt der vorherigen Anhörung des Krankenhausträgers gemäß § 24 SGB X zu den für die Entscheidung der Krankenkassenverbände erheblichen Tatsachen eine besondere Bedeutung zu, weil es kein Vorverfahren gibt und einer Anfechtungsklage gegen den Widerlegungsbescheid für Prognosen ab dem Kalenderjahr 2023 keine aufschiebende Wirkung mehr zukommt. Daher ist dem Krankenhausträger bereits vor der Widerlegung seiner Prognose Gelegenheit zu geben, erkennbar unvollständige oder unplausible Angaben zu konkretisieren oder zu ergänzen. Anderenfalls bestehen erhebliche Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des Widerlegungsbescheids.
2. Die Formvorgaben aus § 33 Abs 3 SGB X gelten auch für einen von mehreren Krankenkassenverbänden gemeinsam erlassenen Widerlegungsbescheid. Enthält ein gemeinsam erlassener Widerlegungsbescheid weder die Unterschrift noch die Namenswiedergabe der einzelnen Behördenleiter bzw der Vertreter oder Beauftragten, bestehen ebenfalls erhebliche Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des Widerlegungsbescheids.
3. Materiell-rechtlich müssen sich die seitens der Krankenkassenverbände nach § 136b Abs 5 S 6 SGB V "begründeten erheblichen Zweifel an der Richtigkeit" der von einem Krankenhausträger abgegebenen Prognose auch auf das maßgebliche Kalenderjahr dieser Prognose beziehen. Allein der Umstand, dass ein Krankenhausträger die erforderliche Mindestmenge in den beiden Vorjahren nicht erreicht hat bzw voraussichtlich nicht erreichen wird, reicht als Begründung für erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Prognose für das maßgebliche Kalenderjahr nicht aus.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 22. November 2022 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den gemeinsamen Bescheid der Antragsgegner vom 4. Oktober 2022 wird angeordnet.
Die Antragsgegner tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Antrags- und Beschwerdeverfahrens wird auf jeweils 28.212 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage.
Die Antragstellerin ist Träger der zur Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen (KKen) zugelassenen S… Kliniken.
Am 4. August 2022 teilte die Antragstellerin den Landesverbänden der KKen und den Ersatzkassen (im Folgenden: Krankenkassenverbände) ihre Prognose zur Erreichung der vom Gemeinsamen Bundesausschuss festgesetzten jährlichen Mindestmenge von 50 Kniegelenks-Totalendoprothesen (Knie-TEP) mit. Sie gab an, im Jahr 2021 insgesamt 30 Patienten sowie im zweiten Halbjahr 2021 und ersten Halbjahr 2022 insgesamt 24 Patienten mit Knie-TEP versorgt zu haben; für 2023 prognostizierte die Antragstellerin dennoch mehr als 50 entsprechende Behandlungen. Auf Nachfrage der Krankenkassenverbände begründete sie ihre Prognose ergänzend mit einer Umstrukturierung der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie nebst Neubesetzung der Chefarztposition im Oktober 2021 nach 7monatiger Vakanz, den im ersten Halbjahr 2022 angestiegenen Behandlungsfallzahlen (auf 20 Knie-TEP-Eingriffe), pandemiebedingten Einschränkungen insbesondere von Juni bis August 2022 und dem Umstand, dass in 2022 ca 12 mindestmengenrelevante Knie-TEP-Eingriffe wegen einer pandemiebedingten Schließung der Parkinsonstation über das sogenannte EndoPark-Konzept für Parkinsonpatienten mit Gonarthrose nicht durchgeführt werden konnten (Schreiben vom 12. September 2022).
Im Anschluss widerlegten die Krankenkassenverbände die Mindestmengenprognose der Antragstellerin: Es sei sehr wahrscheinlich, dass - wie bereits in 2021 - die Mindestmenge von 50 Knie-TEP-Eingriffen auch in 2022 unterschritten werde. Dieser Umstand lasse sich dabei nicht mehr auf die schon im Oktober 2021 nachbesetzte Chefarztposition in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie zurückführen. Gleiches gelte für die pandemiebedingten Einschränkungen bei elektiven Eingriffen, die ebenfalls schon 2020 sowie von Juni 2020 bis Juli 2021 bestanden hätten, obwohl die Antragstellerin in diesem Zeitraum die Mindestmenge für Knie-TEP-Eingriffe erreicht habe. Schließlich sei nicht nachvollziehbar, inwieweit eine etwaige Nutzung der Station für Parkinson-Patienten einen planbaren Einfluss auf die Erbringung von Knie-TEP-Leistungen habe (gemeinsamer und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehener Widerlegungsbescheid der Krankenkassenverbände vom 4. Oktober 2022). Dabei haben die Krankenkassenverbände den Bescheid für sofort vollziehbar erklärt und am Ende (ohne eine Unterschrift oder Namenswiedergabe) mit dem Zusatz versehen: „Dieser Bescheid ist o...