Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung. Arzneikostenregress. Verordnung eines Arzneimittels im Rahmen des Off-Label-Use bei lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlich verlaufender Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
Zu einem Arzneikostenregress wegen der Verordnung eines für ein Krankheitsbild nicht zugelassenen Medikaments zur Verbesserung der Lebensqualität im Endstadium einer lebensbedrohlichen Erkrankung (Tumor-Kachexie, Anorexie); hier: Megestat.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 30. April 2008 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Arzneikostenregress wegen der Verordnung eines für ein Krankheitsbild nicht zugelassenen Arzneimittels (sog. Off-Label-Use).
Der Kläger ist Chefarzt des onkologischen Schwerpunktes des Krankenhauses G - Zentrum für Pneumologie und Thoraxchirurgie. Außerdem nimmt er als Arzt für innere Medizin und Pulmologie an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Am 1. Juni 2001 stellte die zu 1. beigeladene Krankenkasse bei dem Prüfungsausschuss den Antrag auf Feststellung eines sonstigen Schadens gemäß § 12.3 der in Schleswig-Holstein geltenden Prüfvereinbarung vom 15. März 1995 und machte zur Begründung geltend, dass der Kläger im Quartal IV/2000 und I/2001 einem bei ihr versicherten männlichen Patienten das Arzneimittel Megestat verordnet habe. Megestat sei zur palliativen Behandlung von fortgeschrittenen Karzinomen der Brust und der Gebärmutter zugelassen. Die Erprobung von Arzneimitteln auf Kosten der Versicherungsträger sei nicht zulässig. Einen weiteren entsprechend begründeten Antrag auf Feststellung eines Schadens stellte die Beigeladene zu 1. am 25. September 2001 für das Quartal II/2001.
Mit Bescheiden vom 18. Juli 2002 und vom 29. Juli 2002 setzte der Prüfungsausschuss für die Quartale IV/2000 bis II/2001 einen Schadensersatz in Höhe von insgesamt 4154,51 EUR gegen den Kläger fest.
Zur Begründung des dagegen am 31. Juli 2002 eingelegten Widerspruchs machte der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er das Medikament Megestat bei Patienten mit fortgeschrittenen bösartigen Tumoren der Thoraxorgane oder fortgeschrittenen Bronchialkarzinomen mit bereits stattgehabter Metastasierung eingesetzt habe. Für die Patienten hätten zum Zeitpunkt der Verordnung keine kurativen Behandlungsmöglichkeiten mehr bestanden. Die Patienten hätten im Zusammenhang mit der Tumorerkrankung unter einer zunehmenden Tumorkachexie mit Asthenie, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust gelitten. Für die Behandlung dieser speziellen Tumorsymptomatik gebe es kein zugelassenes Präparat, das in der Wirkung dem Präparat Megestat gleichzusetzen sei. Eine Ernährung mit hochkalorischer Kost über eine Darmsonde oder eine PEG sei keine Alternative, weil das Problem nicht in einer mechanischen Schluckstörung oder Behinderung bestehe, sondern in dem ausgeprägten tumorimmunologisch bedingten Appetitmangel. Megestat führe bei mehr als 60 % der Tumorpatienten mit dieser Symptomatik zu einer Appetitsteigerung und zu einer Gewichtszunahme und damit zu einer deutlichen Symptomverbesserung mit deutlich verbesserter Lebensqualität. Ihm sei durchaus bewusst, dass Megestat nicht für diese Indikation zugelassen sei. Dennoch sei die Literatur in Bezug auf die beschriebene Wirkung eindeutig. Dazu bezog sich der Kläger auf zahlreiche Veröffentlichungen. Die Patienten hätten kurzfristig von der Einnahme von Megestat profitiert. Alle in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten Voraussetzungen für die Verordnung eines Medikaments außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereichs (Off-Label-Use) seien erfüllt. Dazu bezog sich der Kläger auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 zum Aktenzeichen B 1 KR 37/00 R (Sandoglobulin).
Der Beklagte zog ein Gutachten des Prof. Dr. H und des Dr. S , Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) N , Kompetenz Centrum Onkologie, vom 17. April 2003 bei und wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 20. Januar 2005 zurück. Zur Begründung führte er aus: Die Verabreichung des Medikamentes Megestat habe gegen die Zulassung verstoßen. Das habe der Kläger als anerkannter Facharzt für die Behandlung von bösartigen Tumoren der Thoraxorgane selbstverständlich erkannt. Deshalb berufe er sich auch nicht auf eine Verschreibung des Medikaments entsprechend seinem zugelassenen Anwendungsbereich, sondern führe aus, dass es sich um einen individuellen Heilversuch gehandelt habe. Individuelle Heilversuche könnten aber nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden. Die Anwendung eines Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikationen könne nur unter bestimmten Bedingungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nicht vor. Zwar seien die Erkrankungen der behandelten Patienten selbstve...