Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Vorverfahrenskosten. Rechtsanwaltsvergütung. dieselbe Angelegenheit iS von § 15 Abs 2 RVG. einheitlicher Lebenssachverhalt. Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft. Festsetzung von Mahngebühren wegen fälliger Erstattungsforderungen
Orientierungssatz
1. Auch mehrere Aufträge verschiedener Auftraggeber können iS von § 15 Abs 2 RVG "dieselbe Angelegenheit" sein, und zwar auch dann, wenn die Angelegenheit verschiedene Gegenstände und teilweise getrennte Prüfaufgaben betrifft (vgl BSG vom 2.4.2014 - B 4 AS 27/13 R = SozR 4-1935 § 15 Nr 1 RdNr 17). Dies gilt jedenfalls dann, wenn von einem vollständig einheitlichen Lebenssachverhalt auszugehen ist.
2. Bei Individualansprüchen von Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft wird dies grundsätzlich bejaht, wobei diese Konstellation eine Erhöhungsgebühr nach Nr 1008 RVG-VV auslöst.
3. Werden gegen mehrere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft wegen fälliger Erstattungsforderungen in getrennten Mahnschreiben jeweils Mahngebühren festgesetzt, gegen die ein Rechtsanwalt aufgrund gesonderter Vollmachten jeweils Widerspruch eingelegt hat, liegt ein einheitlicher Lebenssachverhalt und damit dieselbe Angelegenheit iS des § 15 Abs 2 RVG vor.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 9. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die weitere Zahlung von Rechtsanwaltskosten in einem Verfahren des Forderungseinzugs der Beigeladenen.
Für das Tätigwerden der Beigeladenen galt zwischen dem Beklagten und der Beigeladenen eine „Zusatzverwaltungsvereinbarung nach § 44b Abs. 4 SGB II “ zum Forderungseinzug. Danach wurde die Durchführung des Forderungseinzugs und die Bearbeitung von Widersprüchen und Klagen bis zum 31. Dezember 2021 nach § 44b Abs. 4 SGB II auf die Beigeladene übertragen (§ 2 Abs. 1 der Vereinbarung).
Die Kläger zu 1) und zu 2) sind verheiratet und bezogen von dem Beklagten für den Zeitraum 1. Juni 2018 bis 30. November 2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Der Beklagte setzte am 10. Dezember 2018 mit zwei separaten Bescheiden Erstattungsforderungen gegen die Klägerin zu 1) und den Kläger zu 2) fest. Die Kläger erhoben gegen diese Rücknahme- und Erstattungsbescheide jeweils gesondert Widerspruch.
Die Beigeladene mahnte mit zwei jeweils gesonderten an die Kläger gerichteten Mahnschreiben die Erstattung „im Namen des“ Beklagten an (Schreiben vom 4. März 2019 und 16. Mai 2019) an und setzte eine Mahngebühr in Höhe von jeweils 5,00 Euro fest.
Gegen diese Schreiben erhoben die durch ihren Bevollmächtigten vertretenen Kläger mit gesonderten Schreiben vom 11. Juni 2019 jeweils Widerspruch. Mit gleichlautenden Begründungen führten sie aus, die Erstattungsforderungen seien widerspruchsbefangenen und damit nicht fällig. Die Beigeladene half den Widersprüchen mit zwei Bescheiden (16. Juli 2019 an die Klägerin und 17. Juli 2019 an den Kläger) vollumfänglich ab. In beiden Bescheiden wurde jeweils die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes festgestellt und eine Kostenentscheidung zugunsten der Kläger tenoriert.
Der Bevollmächtigte machte mit zwei gleichlautenden Kostenfestsetzungsanträgen jeweils Rechtsanwaltskosten in Höhe von 202,30 Euro (Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2302 Satz 1 Nr. 1 VVRVG in Höhe von 150,00 Euro, Pauschale für Post- uns Telekommunikation Nr. 7002 VVRVG in Höhe von 20,00 Euro, Umsatzsteuer Nr. 7008 VVRVG in Höhe von 32,30 Euro) geltend. Die Beigeladene setzte mit einem gemeinsamen Kostenfestsetzungsbescheid vom 25. Juli 2019 für beide Kläger Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 255,85 Euro (Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2302 Satz 1 Nr. 1 VVRVG in Höhe von 150,00 Euro, Erhöhungsgebühr gemäß Nr. 1008 VVRVG in Höhe von 45,00 Euro, Pauschale für Post- uns Telekommunikation Nr. 7002 VVRVG in Höhe von 20,00 Euro, Umsatzsteuer Nr. 7008 VVRVG in Höhe von 40,85 Euro) fest. Zur Begründung führte sie unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. April 2014 ( B 4 AS 27/13 R) aus, die Gebühren seien für die Kläger insgesamt nur einmal festzusetzen, weil es sich bei den mit den Widersprüchen angegriffenen separaten Festsetzungen von Mahngebühren insgesamt um eine Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) gehandelt habe. Die hiergegen von den Klägern jeweils getrennt eingelegten Widersprüche vom 29. August 2019 wies die Beigeladene mit einem gemeinsamen Widerspruchsbescheid vom 26. September 2019 zurück.
Am 29. Oktober 2019 haben die Kläger jeweils für sich gesondert Klage ( S 47 AL 158/19 und S 47 AL 159/19) gegen den Bescheid vom 25. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2019 erhoben und die Zahlung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von jeweils 202,30 Euro beantragt. Sie haben geltend gemacht, der Bescheid verstoße gegen ...