Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch im Kindesalter. Beweis. Beweiserleichterung

 

Orientierungssatz

1. Zum Nichtvorliegen eines Anspruchs auf Anerkennung einer chronischen Essstörung, schwerer Depression und einer komplexen dissoziativen Störung als Folge sexuellen Missbrauchs im Kindesalter (hier: als zweijähriges Kind durch den Vater), wenn der sexuelle Missbrauch oder eine andere Gewalttat sich nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt.

2. Zur Beweiserleichterung gemäß § 15 KOVVfG.

 

Tenor

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 17. Oktober 2001 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Gesundheitsstörungen und von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz.

Die 1972 geborene Klägerin beantragte am 16. August 1999 bei dem beklagten Land die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sie gab an, im Alter von zwei Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater geworden zu sein. Bei einem Aufenthalt in einer Gastfamilie in Australien in den Jahren 1989/1990 sei es außerdem zu einem versuchten sexuellen Übergriff durch den Gastvater gekommen. Sie leide an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung auf dem Boden frühkindlicher Traumatisierung, und sie sei seit Ende des Jahres 1974 an Diabetes mellitus Typ I erkrankt. Weiterhin bestehe eine Bulimieerkrankung. Eine erste vage Erinnerung an den sexuellen Missbrauch sei in Form eines sog. Flash-Back im Jahre 1994 aufgetreten. 1997 habe sie sich entschlossen, sich komplett und unwiderruflich von ihrer Familie zu lösen. Sie habe einen neuen Vor- wie auch Familiennamen angenommen. Ferner nahm die Klägerin Bezug auf einen Lebenslauf (Bl. 8 - 14 Verwaltungsakte) sowie eine Bescheinigung des St. V.-Stifts vom 26. März 1997. Das beklagte Land holte eine nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des beratenden Nervenarztes Dr. S. vom 6. Oktober 1999 ein, der mitteilte, er tendiere als Arzt zu der Einschätzung, dass an eine “false memory" zu denken sei. Im Streitfall müssten ein eingehendes psychiatrisches Gutachten und eine ausführliche Exploration und psychologische Testung durch einen anerkannten Fachmann erstellt werden. Daraufhin fragte das beklagte Land bei der Klägerin an, ob sie mit einer eingehenden Befragung aller Personen, die 1974 gemeinsam mit ihr in einem Haushalt gewohnt haben, einverstanden sei. Insbesondere müsse der Beschuldigte eingehend zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs angehört werden. Die Klägerin teilte dazu mit, dass sie einer Befragung der Familie nicht zustimme; eine Aufklärung des Sachverhalts sei dadurch ohnehin nicht zu erwarten. Sie sei aber bereit, sich im Rahmen einer Begutachtung einer Untersuchung zu unterziehen.

Mit Bescheid vom 25. Januar 2000 lehnte das beklagte Land den Antrag der Klägerin ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Für den im vorliegenden Lebenslauf der Klägerin angegebenen versuchten sexuellen Übergriff durch den Gastvater in Melbourne/Australien könne Versorgung nach dem OEG nicht gewährt werden, weil das Ereignis nicht im Geltungsbereich des OEG geschehen sei. Der sexuelle Übergriff durch den Vater der Klägerin sei nicht erwiesen. Eine Anhörung der Eltern zu der Beschuldigung sei auf Grund der Erklärung der Klägerin nicht möglich. Mit der von der Klägerin angeregten fachpsychiatrischen Begutachtung könne der Nachweis, dass es sich bei einem eventuellen Trauma um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 OEG handele, nicht geführt werden. Auch § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könne der Klägerin nicht zugute kommen, weil sie keine konkreten Angaben zu dem schädigenden Ereignis gemacht habe und dies auch nicht könne. Das Ereignis habe sich etwa im zweiten Lebensjahr abgespielt und falle deshalb in die Zeit der sog. frühkindlichen Amnesie. Nach dem im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast habe die Antragstellerin die Folgen der Beweislosigkeit des schädigenden Ereignisses zu tragen.

Zur Begründung des dagegen am 28. Februar 2000 eingelegten Widerspruchs rügte die Klägerin im Wesentlichen eine nicht ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts durch das beklagte Land. Obwohl sie die behandelnden Ärzte und Therapeuten detailliert angegeben und von der Schweigepflicht entbunden habe, habe das beklagte Land keine weiteren Ermittlungen durchgeführt und insbesondere keine Untersuchung durch einen Gutachter veranlasst.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2000 wies das beklagte Land den Widerspruch der Klägerin zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Die von der Klägerin beantragte Begutachtung sei entbehrlich, weil jedenfalls der Nachweis eines schädigenden Ereignisses im Sinne des § 1 OE...

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