Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsatz der objektiven Beweislast. Coronabedingte Einschränkungen des täglichen Lebens. Fristsetzung. Zurückweisung von Erklärungen und Beweismitteln. Keine Verpflichtung zur Einholung eines Gutachtens

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten wolle.

2. Dies gilt für das Vorhandensein positiver wie für das Fehlen negativer Tatbestandsmerkmale; die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen geht in der Regel zu Lasten desjenigen, der Leistungen begehrt.

3. Auch in Zeiten der coronabedingten Einschränkungen des täglichen Lebens wurde das Grundprinzip der objektiven Beweislast im sozialmedizinischen Gerichtsverfahren nicht außer Kraft gesetzt.

4. Ist der Kläger im Verfahren nach § 106a SGG belehrt worden, so kann das Gericht bei Weigerung des Klägers unter den dort genannten Voraussetzungen Erklärungen und Beweismittel zurückweisen und ist das Gericht nicht gemäß §§ 103, 106 SGG verpflichtet, ein Gutachten einzuholen.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 106, 106a, 153 Abs. 2; SGB VI § 43

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 28.09.2023; Aktenzeichen B 5 R 32/23 BH)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 8. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtlichen Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch des Klägers auf eine Erwerbsminderungsrente.

Auf die Aufforderung des Jobcenters Lübeck beantragte der 1969 geborene Kläger am 27. Mai 2016 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung mit der Begründung zahlreicher organischer Leiden. Darüber hinaus verwies er auf umfangreiche soziale und finanzielle Probleme, die ihn belasten würden.

Der Kläger wurde im Auftrag der Beklagten am 21. Juli 2016 im Zuge eines parallelen Verfahrens hinsichtlich von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, welches der Kläger allein auf Aufforderung der Bundesagentur für Arbeit initiierte, ambulant durch Dr. S, Fachärztin für psychosomatische Medizin/Psychotherapie, untersucht. Dr. S attestierte dem Kläger in ihrem Gutachten vom 25. Juli 2016 ein vollschichtiges Leistungsvermögen für mittelschwere Arbeiten mit qualitativen Leistungseinschränkungen.

Die Beklagte lehnte den Antrag unter Verweis auf ein ausreichendes Leistungsvermögen von sechs Stunden am Tag mit Bescheid vom 27. Juli 2016 ab.

Gegen diese Entscheidung erhob der Kläger am 26. August 2016 Widerspruch, den er trotz mehrfacher Aufforderung nicht begründete.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2017 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger sei trotz der führenden Erkrankungen einer seelischen Minderbelastbarkeit bei anhaltendem depressiven Verstimmungszustand im Sinne einer Dysthymie bei rezidivierender Depressivität und abgeklungener depressiver Störung, Minderbelastbarkeit bei Verdacht auf eine seelische Störung mit Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und Minderbelastbarkeit bei Bauchnabelbruch ohne Einklemmung noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mittelschwere Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich mit gewissen qualitativen Leistungseinschränkungen zu leisten. Neue medizinische Erkenntnisse lägen seit der Begutachtung vom 21. Juli 2016 nicht vor.

Hiergegen hat der Kläger am 21. April 2017 Klage beim Sozialgericht Lübeck erhoben. Er sei voll erwerbsgemindert, da er aufgrund Krankheit auf nicht absehbare Zeit außerstande sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Neben den bereits von der Beklagten festgestellten psychiatrischen Erkrankungen leide der Kläger noch an einer Depression bzw. einem Burn-Out-Syndrom, einer Augenerkrankung, einem schmerzhaften Nabelbruch, einer schmerzhaften urologischen Erkrankung, rechtsseitigen Knie- und Hüftschmerzen, linksseitigen Sprunggelenkschmerzen, einem Rundrücken, gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Zähne, einer chronischen Sinusitis, chronischer Erschöpfung und Müdigkeit, an Herz-Kreislauf-Magen-Darm-Beschwerden sowie einer neurologischen Sturzverletzung der linken Hand. Indizierte Operationen hinsichtlich einzelner Erkrankungen seien aufgrund bestehender Risiken bislang nicht durchgeführt worden.

Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juli 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2017 zu verurteilen, ihm seit Antragstellung am 27. Mai 2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf den angefochtenen Bescheid bezogen.

Der Kläger hat sich seit Antragstellung bei der Beklagten bis zum Abschluss des Klageverfahrens in erster Instanz nicht...

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