Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit. insulinpflichtiges Kind mit Diabetes mellitus Typ 1. Interpretation des Kriteriums „Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen“ im Modul 3. Verhältnis des Kriteriums „Essen“ im Modul 4 zum Kriterium „Einhaltung einer Diät und anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften“ im Modul 5
Orientierungssatz
1. Zum Streit über die Gewährung von Pflegegeld nach dem Pflegerad 2 bei einem insulinpflichtigen Kind mit Diabetes mellitus Typ 1.
2. Zur Interpretation des Kriteriums „Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen“ im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) nach § 14 Abs 2 Nr 3 SGB 11 iVm Ziffer 3.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11; hier: Abwehr beim Wechsel des Infusionssets. Abweichend von der Auffassung in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Begutachtungs-Richtlinien - BRi) vom 15.4.2016 idF des Beschlusses vom 22.3.2021 sieht der Senat keinen Anhaltspunkt für die Einengung auf nicht steuerbares Verhalten.
3. Zum Verhältnis des Kriteriums „Essen“ im Modul 4 (Selbstversorgung) nach § 14 Abs 2 Nr 4 SGB 11 iVm Ziffer 4.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11 zum Kriterium „Einhaltung einer Diät und anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften“ im Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) nach § 14 Abs 2 Nr 5 iVm Ziffer 5.16 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11. Der Senat schließt sich der überzeugenden Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg an, nach der es bei dem Kriterium „Einhalten einer Diät“ nach 5.16 vorrangig um die Einsichtsfähigkeit einer Person zur Einhaltung ärztlich angeordneter Diäten, nicht aber um die Vorbereitung oder Durchführung einer Verhaltensvorschrift oder einer Diät geht. Nach der BRi KF 5.16 geht es vielmehr darum, ob die Person mental in der Lage ist, die Notwendigkeit zu erkennen und die Verhaltensvorschrift einzuhalten, weshalb eine Kumulation, demnach ein Hilfebedarf beim Essen und beim Einhalten einer Diät, denkbar ist (vgl LSG Stuttgart vom 15.5.2023 - L 4 P 132/22 = juris RdNr 51).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Januar 2021 wie folgt neu gefasst:
In Abänderung des Bescheides vom 17. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2019 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 2017 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Pflegegeld aus der gesetzlichen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 für die Zeit ab dem 1. Januar 2017.
Der 2009 geborene Kläger ist bei der Beklagten, einer gesetzlichen Pflegeversicherung, über seine Eltern pflegeversichert. Er leidet unter einem im Juli 2012 erstdiagnostizierten insulinpflichtigen Diabetes Mellitus Typ 1 und ist seitdem mit einer Insulinpumpe versorgt. Er bewohnt mit seinen Eltern und seinen Geschwistern ein Einfamilienhaus. Die pflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung wird hauptsächlich von der nicht berufstätigen Mutter übernommen. Der vollzeitberufstätige Vater unterstützt die Mutter bei Anwesenheit. Die Grundschule besuchte der Kläger wegen der erheblichen Blutzuckerschwankungen bis zur 4. Klasse mit einer Schulassistenz; an Klassenfahrten nahm er stets in Begleitung seiner Mutter teil. Seit 2020 besucht der Kläger die Oberschule zum Dom in L.
In einem vorherigen Verfahren zu der streitigen Frage des Pflegegeldes nach der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Pflegestufe (Sozialgericht Lübeck, S 30 P 87/16, nachfolgend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, L 7 P 6/14) wurden sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 28. September 2017 vor dem Bundessozialgericht (B 3 P 3/16 R) darüber einig, dass die Beklagte die Pflegebedürftigkeit des Klägers nach den ab dem 1. Januar 2017 geltenden Rechtsvorschriften des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) neu beurteilen werde. Ein entsprechender Antrag wurde am 21. November 2018 gestellt.
Auf diesen Antrag holte die Beklagte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Der MDK kam in seinem Gutachten vom 5. April 2019 nach Untersuchung des Klägers in dessen häuslichem Umfeld zu dem Ergebnis, dass bei einer Summe der gewichteten Punkte von 13,75 die Voraussetzungen lediglich für den Pflegegrad 1 erfüllt seien.
Mit Bescheid vom 17. April 2019 gewährte die Beklagte dem Kläger Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 1 ab dem 1. Januar 2017.
Hiergegen legte der Kläger fristgerecht Widerspruch ein. Das zuständige Landesamt für soziale Dienste habe einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 v.H. f...