Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Pflegeversicherung. Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit. insulinpflichtiges Kind mit Diabetes mellitus Typ 1. Interpretation des Kriteriums „Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen“ im Modul 3. Verhältnis des Kriteriums „Essen“ im Modul 4 zum Kriterium „Einhaltung einer Diät und anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften“ im Modul 5
Orientierungssatz
1. Zum Streit über die Gewährung von Pflegegeld nach dem Pflegerad 2 bei einem insulinpflichtigen Kind mit Diabetes mellitus Typ 1 (vgl auch LSG Schleswig vom 21.8.2023 - L 8 P 6/22 ).
2. Zur Interpretation des Kriteriums „Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen“ im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) nach § 14 Abs 2 Nr 3 SGB 11 iVm Ziffer 3.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11; hier: Abwehr beim Wechsel des Infusionssets. Abweichend von der Auffassung in den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Begutachtungs-Richtlinien - BRi) vom 15.4.2016 idF des Beschlusses vom 22.3.2021 sind aus Sicht des Senats hier sämtliche (willentliche und unwillentliche) Abwehrverhaltensweisen unabhängig von ihrer Ursache im Regelfall zu berücksichtigen. Für eine teleologische Verengung auf rein psychisch bedingte Verhaltensweisen sieht der Senat nach § 14 Abs 2 Nr 3 SGB 11 bzw § 15 Abs 6 S 1 SGB 11 keinen Anhaltspunkt.
3. Zum Verhältnis des Kriteriums „Essen“ im Modul 4 (Selbstversorgung) nach § 14 Abs 2 Nr 4 SGB 11 iVm Ziffer 4.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11 zum Kriterium „Einhaltung einer Diät und anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften“ im Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) nach § 14 Abs 2 Nr 5 iVm Ziffer 5.16 der Anlage 1 zu § 15 SGB 11. Der Senat schließt sich der überzeugenden Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg an, nach der es bei dem Kriterium „Einhalten einer Diät“ nach 5.16 vorrangig um die Einsichtsfähigkeit einer Person zur Einhaltung ärztlich angeordneter Diäten, nicht aber um die Vorbereitung oder Durchführung einer Verhaltensvorschrift oder einer Diät geht. Nach der BRi KF 5.16 geht es vielmehr darum, ob die Person mental in der Lage ist, die Notwendigkeit zu erkennen und die Verhaltensvorschrift einzuhalten, weshalb eine Kumulation, demnach ein Hilfebedarf beim Essen und beim Einhalten einer Diät, denkbar ist (vgl LSG Stuttgart vom 15.5.2023 - L 4 P 132/22 = juris RdNr 51 ).
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Tenor des Urteils des Sozialgerichts Schleswig vom 16. Februar 2023 wie folgt neu gefasst:
Unter Aufhebung des Bescheides vom 24. März 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Oktober 2020 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 27. Februar 2020 Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 für die Zeit ab 27. Februar 2020.
Der 2016 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert und seit Februar 2020 an Diabetes Mellitus Typ I erkrankt. Er ist schwerbehindert mit einem GdB von 50 und hat das Merkzeichen „H“.
Die Insulinversorgung erfolgt über eine Insulinpumpe, die Blutzuckermessungen über einen Glukosesensor. Zusätzliche Blutzuckerkontrollen sind etwa 8x/Tag erforderlich. Im Rahmen der intensivierten Insulintherapie erfolgen mindestens achtmal täglich Insulininjektionen über die Insulinpumpe. Diese muss 1x/Woche befüllt und alle drei Monate ausgelesen werden. Darüber hinaus müssen der Katheter der Pumpe alle zwei Tage und der Sensor alle sieben Tage gewechselt werden. Die Ermittlung der Insulindosis erfolgt in Abhängigkeit vom aktuell gemessenen Blutzuckerwert, der Kohlenhydratmenge und der Kohlenhydratsorte der Mahlzeiten und der körperlichen Belastung. Bei drohender Über- und Unterzuckerung ist sofortige Intervention erforderlich.
Am 27. Februar 2020 beantragte der Kläger die Gewährung von Pflegegeld nach§ 37 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) .
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) stellte im Rahmen seiner nach telefonischer Befragung durchgeführten Begutachtungen vom 23. März 2020 lediglich einen Hilfebedarf im Umfang von zehn gewichteten Punkten fest. Dieser ergab sich allein aus Modul 5. Die in den Modulen 2, 4 und 6 feststellbaren Einschränkungen bestünden lediglich altersbedingt.
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. März 2020 ab. Der MDK habe in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 23. März 2020 insgesamt 10 Punkte ermittelt. Erst ab 12,5 Punkten erfolge eine Zuordnung in den Pflegegrad 1. Dementsprechend könnten keine Leistungen der Pflegeversicherung gewährt werden.
Hiergegen hat der Kläger am 31. März 2020 Widerspruch erhoben (Widerspruc...