Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittel. Auftragsvergabe an den Leistungserbringer. Charakter eines durch den Versicherten anfechtbaren Verwaltungsaktes. Haarersatz aus Echthaar statt aus Kunsthaar bei vorübergehendem Haarverlust durch Chemotherapie. kein allgemein anerkannter Stand medizinischer Erkenntnisse. Erfordernis einer ärztlichen Begründung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Auftragsvergabe an einen Leistungserbringer für Hilfsmittel ist ein Verwaltungsakt, der bei Bekanntgabe über den Leistungserbringer durch den Versicherten angefochten werden kann, wenn die Krankenkasse den Versicherten nicht gesondert bescheidet.
2. Es gibt keinen allgemein anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse, dass bei vorübergehendem Haarverlust durch Chemotherapie nur Haarersatz aus Echthaar zu verwenden ist.
3. Ein Versorgungsvertrag iSd § 127 SGB V darf vorsehen, dass bei vorübergehendem Haarverlust durch Chemotherapie kein regelhafter Anspruch auf Haarersatz aus Echthaar besteht, sondern ein solcher nur mit ärztlicher Begründung geltend gemacht werden kann.
Orientierungssatz
Zum Anspruch auf Haarersatz bei vorübergehendem Haarverlust durch Chemotherapie nach dem vom BSG aufgestellten Maßstab für den mittelbaren Behinderungsausgleich bei Kahlköpfigkeit (vgl BSG vom 22.4.2015 - B 3 KR 3/14 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 45 und BSG vom 23.7.2002 - B 3 KR 66/01 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 45).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 14. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Kostenerstattung für Haarersatz, den sich die Klägerin bei dem Leistungserbringer beschaffte.
Der Leistungserbringer bietet in N... medizinischen Haarersatz an und ist Mitglied des Bundesverbands der Zweithaarspezialisten eV (BVZ). Zwischen dem Verband der Ersatzkassen (vdek), dessen Mitglied die beklagte Krankenkasse ist, und dem BVZ bestand seit dem 1. Mai 2017 ein Vertrag über die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Haarersatz (Versorgungsvertrag). Der Vertrag listete Haarersatz aus Kunsthaar bei der Indikation „krankheitsbedingter vorübergehender Haarverlust“ (Tragedauer mindestens 6 Monate) zu einem Vertragspreis von 404,60 Euro (brutto) und Haarersatz aus Echthaar bei der Indikation „krankheitsbedingter endgültiger Haarverlust“ (Tragedauer mindestens 12 Monate) zu einem Preis von 934,15 Euro (brutto) auf. Dabei gelte Haarersatz aus Echthaar nur in Ausnahmefällen, wenn die Versorgung mit den vorangegangenen Positionen nicht möglich ist, wofür eine eingehende Begründung erforderlich sei, ggf auch vom Arzt (§ 3 Abs 2 Anhang 1 des Versorgungsvertrages - Preisvereinbarung).
Der Leistungserbringer versorgte die bei der Beklagten versicherte Klägerin im März 2018 mit Haarersatz (Empfangsbestätigung nebst Mehrkostenerklärung datierend auf den 5. März 2018; Rechnung vom 14. März 2018 iHv 1.685 Euro minus 394,60 Euro) und übersandte der Klägerin mit der Rechnung ein Schreiben vom 14. März 2018 mit dem Inhalt „In der Anlage übersenden wir Ihnen die Differenzrechnung zwischen dem derzeitigen Krankenkassenzuschuss und dem tatsächlichen Preis für das Ihnen zustehende Hilfsmittel "medizinischer Echthaarersatz". Wie mit Ihnen vereinbart, werden diese Mehrkosten in Ihrem Namen gegenüber der Krankenkasse als Kostenerstattung geltend gemacht. Bis zu der Erstattung dieser weiteren Kosten durch Ihre Kasse ist eine Zahlung Ihrerseits wie besprochen nicht notwendig.“ Für die Klägerin wurde am 12. Juli 2023 ein Betrag in Höhe von 529,55 Euro (Differenzbetrag zwischen den Vertragspreisen für die Versorgung mit Haarersatz aus Kunsthaar bzw Echthaar) auf das Konto des Leistungserbringers überwiesen.
Der Versorgung der Klägerin lag eine ärztliche Verordnung vom 9. Januar 2018 für „1 Perücke“ mit der Diagnose „Chemotherapie bei Mammakarzinom“ zugrunde. Diese reichte der Leistungserbringer zusammen mit einem Kostenvoranschlag vom 7. Februar 2018 für Echthaarersatz iHv 1.685 Euro für die Versorgung der Versicherten mit Haarersatz aus Echthaar bei der Beklagten ein, wobei auch angegeben wurde, dass ein Bedarf „über einen längeren Zeitraum“ bestehe. Die Beklagte erklärte dem Leistungserbringer gegenüber mit Schreiben vom 27. Februar 2018 die Kostenübernahme für Haarersatz in Höhe von 394,60 Euro (Preis der Hilfsmittelposition für Haarersatz aus Kunsthaar abzüglich gesetzlicher Zuzahlung iHv 10,00 Euro), wobei die Versicherte - die Klägerin - keinen weiteren Eigenanteil zu zahlen habe, und beauftragte ihn mit der Versorgung. Der Klägerin gegenüber teilte die Beklagte keine Entscheidung mit. Der Leistungserbringer bat die Beklagte mit Schreiben vom 6. März 2018 um Nachbewilligung bis zu einem Betrag in Höhe von 924,15 Euro (Preis der Hilfsmittelposition für Haarersatz aus Echthaar). Ferner legte die Klägerin - anwaltlich vertreten - mit Schreiben vom 15. März...