Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Begriff des Ghettos iS des ZRBG. Abgrenzung einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss iS des ZRBG von Zwangsarbeit. internierungsähnliche Arbeitsbedingungen
Leitsatz (amtlich)
1. Ghettos iS eines weiten entschädigungsrechtlich überformten Verständnisses des ZRBG sind letztlich alle abgrenzbaren Orte, die Juden und anderen Gruppen von Verfolgten innerhalb des nationalsozialistischen Einflussbereichs zwangsweise zum Wohnen und regelmäßigen Aufenthalt zugewiesen waren und an denen eine entgeltlich Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss iS von § 1 Abs 1 S 1 Nr 1 ZRBG gleichwohl noch möglich war (Anschluss an BSG vom 20.5.2020 - B 13 R 9/19 R = BSGE 130, 171 = SozR 4-5075 § 1 Nr 10).
2. Eine aus eigenem Willensentschluss aufgenommene Beschäftigung liegt dann nicht vor, wenn der Betroffene zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen wird oder die Annahme der Arbeit bezogen auf die Situation des Betroffenen alternativlos ist, weil die Ablehnung der Arbeitsaufnahme mit einer Gefahr für Leib und Leben verbunden ist. Eine verrichtete Arbeit entfernt sich umso mehr von dem Typus des in die Rentenversicherung einbezogenen abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an, als sie durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann. Ob eine aus eigenem Willensentschluss iS des ZRBG zustande gekommene Beschäftigung oder eine den eigenen Willensentschluss ausschließende Zwangsarbeit vorlag, ist vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage des Betroffenen zu beurteilen.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 5. Februar 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente aufgrund fiktiver Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu leisten hat.
Die 1921 in G (während der deutschen Besatzung: G1) in der Slowakei geborene Klägerin ist Jüdin und wurde aus diesem Grund Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Sie lebte von 1941 bis 1944 in P in der CSR unter den für Juden festgelegten Beschränkungen und trug den Judenstern. Mitte 1944 flüchtete sie nach K (heute: K1), wurde dort verhaftet und in ein ehemaliges Schulgebäude gebracht. Die SS nutzte die erste Etage des Schulgebäudes als Sammelstätte für Juden und Regimegegner (Partisanen), die später deportiert wurden. In der zweiten Etage lebten und arbeiteten solche Juden, die für die SS gearbeitet haben. Die Menschen, die sich in einem der beiden Stockwerke aufgehalten haben, durften ihr Stockwerk nicht verlassen.
Allenfalls für einzelne Arbeiten wurden Arbeitskräfte aus dem zweiten Stockwerk in das erste Stockwerk des Schulgebäudes geschickt. Die Klägerin war zunächst im ersten Stockwerk untergebracht. Nachdem sie dem Scharführer M als geeignete Arbeitskraft vorgeschlagen worden war, lebte die Klägerin in der zweiten Etage und verrichtete dort Näh-, Wasch- und Küchenarbeiten für die Deutschen. Sie durfte dieses Stockwerk nicht verlassen. Sie erhielt Zugang zu fließendem Wasser, Decken zum Schlafen und ein besseres Essen im Vergleich zu den im ersten Stockwerk untergebrachten Personen. Am 25. Januar 1945 gelangen der Klägerin und weiteren Bewohnern die Flucht aus dem Schulgebäude, und sie versteckten sich für eine Nacht in einer Wohnung. Nachdem sie von Wehrmachtsoldaten entdeckt und festgenommen worden war, gelang der Klägerin erneut die Flucht. Mit der Befreiung K durch die sowjetische Armee wurde die Klägerin endgültig befreit. Nach Kriegsende lebte die Klägerin in K und wanderte am 10. Oktober 1948 in die USA aus. Nach ihren Angaben im Rentenantrag bezieht sie eine US-Rente.
In dem beim Amt für Wiedergutmachung in S geführten Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) gab die Klägerin in der Erklärung vom 12. Juni 1958 an, sie habe den Beruf der Schneiderin erlernt, habe von September 1941 bis September 1944 in P in der CSR unter den für die Juden festgelegten Beschränkungen den Judenstern getragen und gelebt, sei dann nach K geflüchtet, sei dort verhaftet und ins Sammellager gebracht worden. Dort habe sie schwere Zwangsarbeit für die SS verrichten müssen. Im Januar 1945 sei sie durch die Russen befreit worden. In dem Antrag auf Entschädigung (Datum nicht erkennbar) führte die Klägerin aus, sie sei im September 1944 nach K geflüchtet und dort verhaftet und in das Zwangsarbeitslager bzw. Sammellager gebracht worden, wo sie schwere körperliche Arbeiten habe verrichten müssen. Sie habe unter Hunger, Kälte und Misshandlungen gelebt und gearbeitet, in ständiger Panik und Angst erschossen zu werden. Im Janua...