Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Vergütung. Honorarverteilung. Punktzahlvolumen einer langjährig unterdurchschnittlich abrechnenden Arztpraxis. Zugewinn

 

Leitsatz (amtlich)

1. Unterdurchschnittlich abrechnende Arztpraxen - ob neu gegründet oder seit vielen Jahren etabliert - stellen typische Sonderfälle dar, die im Rahmen der Honorarverteilung einer Kassenärztlichen Vereinigung so häufig vorkommen, dass entsprechende Sonderbestimmungen in den Honorarverteilungsvorgaben erwartet werden können.

2. Ein über viele Jahre hinweg konstantes, unterdurchschnittliches Umsatzniveau einer Arztpraxis stellt im Rahmen einer typisierenden Betrachtung einen zuverlässigen Indikator für den gewünschten Teilnahmeumfang an der vertragsärztlichen Versorgung dar. Dieser Umstand ist eine ausreichende sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Handhabung innerhalb der Gruppe der unterdurchschnittlich abrechnenden Arztpraxen bei der Honorarverteilung.

3. Die insoweit gerechtfertigte Privilegierung von Praxisneugründern gegenüber langjährig unterdurchschnittlich abrechnenden Arztpraxen darf nach Ablauf der allgemein anerkannten Wachstumsphase von bis zu 20 Quartalen nicht dadurch wieder relativiert werden, dass der dann ehemalige Praxisneugründer auf das typischerweise geringere Honorarvolumen aus der Wachstumsphase zurückgeworfen wird (Anschluss an BSG vom 10.12.2003 - B 6 KA 54/02 R = BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5).

4. Der Normgeber eines Honorarverteilungsmaßstabs kann sich nicht darauf beschränken, nur die Verteilung der Gesamtvergütungen für das jeweils aktuelle Quartal zu regeln; vielmehr muss dort zumindest auch das Folgejahresquartal hinsichtlich der Weiterentwicklung der Budgets in den Blick genommen werden (Anschluss an BSG vom 28.1.2009 - B 6 KA 5/08 R = SozR 4-2500 § 85 Nr 45).

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten und der Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 6. März 2019 geändert.

Die Beklagte wird unter Änderung der PZV-Mitteilung und des Honorarbescheids für das Quartal I/2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 2015 verurteilt, über den Honoraranspruch des Klägers im Quartal I/2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Vor-, Klage- und Berufungsverfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Klage- und Berufungsverfahrens wird auf jeweils 1.687 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Streitig ist der Umfang des Punktzahlvolumens (PZV) im Quartal I/2015.

Der Kläger nimmt als Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung in K... teil.

Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) wies dem Kläger in den „Mitteilungen ihres Punktzahlvolumens“ für das Quartal I/2015 ein Gesamt-PZV iHv 271.759,1 Punkten zu. Bei der Berechnung berücksichtigte die Beklagte das PZV des Klägers aus dem Vorjahresquartal (über 270.246,8 Punkte) zuzüglich eines Aufschlags für die Höherbewertung der hausärztlichen Zusatzpauschale (über 1.512,3 Punkte); ein Zugewinn wurde nicht gewährt (Schreiben vom 15. Dezember 2014). Das zugewiesene Gesamt-PZV berücksichtigte die KÄV auch im Honorarbescheid des Klägers für das Quartal I/2015, wobei die innerhalb des PZV erbrachten vertragsärztlichen Leistungen zum Orientierungspunktwert und die das Volumen überschreitenden vertragsärztlichen Leistungen (iHv insgesamt 25.988,5 Punkten) mit einem Punktwert von 0,036032 EUR vergütet wurden.

Gegen die PZV-Mitteilung und den Honorarbescheid für das Quartal I/2015 legte der Kläger fristgemäß Widerspruch ein und führte zur Begründung sinngemäß aus, dass ihm die Beklagte bei der Berechnung des PZV zu Unrecht keinen Zugewinn gewährt habe. Nach der Sonderregelung für unterdurchschnittlich abrechnende Ärzte in Teil C Ziffer 4 Absatz 1 Satz 2 des Honorarverteilungsmaßstabs (HVM) für das Vorjahresquartal I/2014 seien „Überschreitungen eines unterdurchschnittlichen PZVs (…) bis zu einer Höhe von 10 Prozentpunkten des Durchschnitts-PZV der Arztgruppe unmittelbar als Zugewinn des PZV für das Folgejahresquartal wirksam.“ Diese Voraussetzungen habe er erfüllt: Im Quartal I/2014 sei sein PZV mit 270.246,8 Punkten unterdurchschnittlich gewesen und er habe dieses PZV in dem Zeitraum um rund 25.000 Punkte überschritten; dennoch sei ihm bei der PZV-Berechnung für das Quartal I/2015 kein Zugewinn gewährt worden.

Den Widerspruch wies die Beklagte jedoch zurück. Im streitbefangenen Quartal I/2015 habe die Sonderregelung für unterdurchschnittlich abrechnende Ärzte in Teil C Ziffer 4 Absatz 1 Satz 3 des HVM bereits den Zusatz enthalten, dass nur solche PZV-Überschreitungen unmittelbar als Zugewinn im Folgejahresquartal wirksam seien, bei denen „arztindividuelle Leistungssteigerungen gegenüber der zur Berechnung der PZV maßgeblichen Leistungsmenge“ vorlägen. Der Kläger habe aber im (Vorjahres-)Quartal I/2014 keine Leistungssteigerungen id...

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