Entscheidungsstichwort (Thema)
Die Einsatzfahrt eines Rettungswagens ist auf einer gut einsehbaren Hauptstraße mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung um mehr als das Doppelte (75 km/h statt erlaubter 30 km/h) gerechtfertigt.
Leitsatz (amtlich)
1. Rettungswagen sind von den Vorschriften der StVO befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Die Beweislast für das Vorliegen einer Einsatzfahrt trägt derjenige, der sich auf das Vorliegen einer Einsatzfahrt beruft.
2. Sonderrechte für Rettungswagen dürfen nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Je mehr sich der Einsatzfahrer über allgemeine Verkehrsregeln hinwegsetzt und dadurch die Unfallgefahren erhöht, desto größer ist die ihm obliegende Sorgfaltspflicht.
3. Die Einsatzfahrt ist auf einer gut einsehbaren Hauptstraße mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung um mehr als das Doppelte (hier 75 km/h statt erlaubter 30 km/h) gerechtfertigt.
4. Auf welche Weise "freie Bahn" zu schaffen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, wobei der Ausschluss einer Behinderung des Einsatzfahrzeugs alleinige Richtschnur für das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer sein muss. Im Zweifel muss der Unfallgeschädigte mit seinem Fahrzeug einfach stehen bleiben, sofern für das Ausweichen nach links oder rechts kein genügender Platz vorhanden ist.
Normenkette
BGB § 839; GG Art. 34; StVG §§ 7, 9 Abs. 1 S. 4, § 17; StVO § 35 Abs. 5 Buchst. a, Abs. 8, § 38 Abs. 1
Tenor
I. Die Klägerin wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 2.500 EUR festzusetzen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Amtshaftungsansprüche nach einem Verkehrsunfall.
Der Ehemann der Klägerin, der Zeuge S., stieß mit ihrem Fahrzeug am 21.10.2022 im Kreuzungsbereich G.-Straße/S. in B. beim Linksabbiegen mit einem Krankenrettungswagen der Beklagten zusammen, der das klägerische Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn überholte. Das Martinshorn und das Blaulicht waren 7,11 Sekunden und 127,7 m vor der Kollision eingeschaltet, die Geschwindigkeit des Rettungswagens betrug über 75 km/h. Die Klägerin hat auf der Basis einer Haftungsquote von 75 % eigenen materiellen Unfallschaden und - aus übergegangenem Recht - immateriellen Schadensersatz ihres Ehemann beansprucht, der bei dem Unfall eine Gehirnerschütterung und ein HWS-Schleudertrauma erlitt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Ansprüche aus Amtshaftung seien nicht begründet, denn den Missbrauch von Sonderrechten habe die Klägerin nicht bewiesen. Aufgrund der mit Martinshorn und Blaulicht zurückgelegten Strecke habe die Fahrerin des Rettungswagens auch darauf vertrauen dürfen, dass sich alle Verkehrsteilnehmer auf den nahenden Rettungswagen einstellen können. Ansprüche aus § 7 StVG seien nicht gegeben, da die Klägerin bereits nicht dargelegt habe, wer Halter des Rettungswagens gewesen sei.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Klagziele weiter verfolgt. Sie rügt, die vom Landgericht angenommene Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Berechtigung der Nutzung von Sonderrechten. Diese obliege nicht ihr, sondern der Beklagten. Hierzu habe die Beklagte nichts dargelegt. Der Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeuges dürfe Sonderrechte nur mit gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausüben, was bei der Überschreitung einer Geschwindigkeit um das 2 ½ fache nicht gegeben sei. Der Fahrer ihres Fahrzeugs sei bemüht gewesen, dadurch freie Bahn zu schaffen, indem er nach links in die dort befindliche Straße abbiegt, wie er es durch Blinksignal und Einordnen zur Fahrbahnmittellinie auch angekündigt habe. Die Haltereigenschaft der Beklagten für das Rettungsfahrzeug sei von ihr, der Klägerin, dargelegt worden, da sie von dem "Rettungsfahrzeug der Beklagten" gesprochen habe.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und
1. die Beklagte zu verurteilen, an die sie 1.651,46 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.05.2023 zu zahlen,
2. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes, in der Höhe in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 400,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Proze...