Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Befangenheit bei Mitgliedschaft im selben Spruchkörper eines Kollegialgerichts wie eine Partei
Leitsatz (amtlich)
1. Die enge Zusammenarbeit von Richterinnen und Richtern in einem Kollegialgericht führt regelmäßig zu einer persönlichen Beziehung zwischen ihnen, die ihre Unbefangenheit in Frage stellt, wenn eine oder einer von ihnen selbst als Partei am Rechtsstreit beteiligt ist. Das gilt auch dann, wenn das Mitglied des Spruchkörpers nicht persönlich, sondern als Organ einer Gesellschaft am Rechtsstreit beteiligt ist.
2. Die Besorgnis der Befangenheit ist unabhängig davon zu bejahen, ob einzelne der abgelehnten Handelsrichterinnen und Handelsrichter in der Vergangenheit noch nicht mit dem als Partei an dem Rechtsstreit beteiligten Kammermitglied eine gemeinsame Spruchgruppe gebildet haben. Entscheidend ist die nicht auszuräumende berechtigte Besorgnis der gegnerischen Partei, auch diese ehrenamtlichen Richterinnen und Richter könnten ihr gegenüber nicht unbefangen sein.
Normenkette
ZPO §§ 36, 42, 45 Abs. 3
Tenor
Die Selbstablehnung beider Vorsitzenden Richter der Kammern für Handelssachen I und II des Landgerichts Flensburg sowie das gegen sämtliche Handelsrichterinnen und Handelsrichter dieser Kammern gerichtete Ablehnungsgesuch der Antragstellerin vom 22. Dezember 2022 werden mit Ausnahme des gegen die Handelsrichterin X gerichteten Gesuchs für begründet erklärt.
Der Rechtsstreit wird zur Zuständigkeitsbestimmung dem 2. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vorgelegt.
Gründe
I. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 28. November 2022 Klage vor der Kammer für Handelssachen des Landgerichts Flensburg auf Zahlung eines Kaufpreises aus mehreren mit der Beklagten abgeschlossenen Werklieferungsverträgen in Höhe von 189.088,48 EUR nebst Zinsen sowie Ersatz außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten erhoben. Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen I, der die Sache nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts zugewiesen ist, hat gemäß § 48 ZPO angezeigt, dass die Geschäftsführerin der Klägerin, X, Handelsrichterin in dieser Kammer sei. Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen II des Landgerichts Flensburg, der nach der Geschäftsverteilung des Landgerichts die Kammer für Handelssachen I in erster Linie als Vertreter zur Entscheidung über die Selbstablehnung ergänzt hätte, hat ebenfalls nach § 48 ZPO angezeigt, dass die Geschäftsführerin der Klägerin auch in seiner Kammer als Handelsrichterin eingesetzt sei.
Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts als weiterer Vertreter der Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen berufene Vorsitzende der 7. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg hat die Parteien sodann darauf hingewiesen, dass nach der herrschenden Meinung die Besorgnis der Befangenheit der Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen I und II sowie sämtlicher Handelsrichterinnen und Handelsrichter wegen der Zugehörigkeit der Geschäftsführerin der Klägerin als Handelsrichterin in beiden Kammern bestehen dürfte (Verfügung vom 5. Dezember 2022, GA 158). Daraufhin hat die Beklagte die Handelsrichterinnen und Handelsrichter beider Kammern für Handelssachen des Landgerichts Flensburg wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und ist der weiteren Tätigkeit der Kammervorsitzenden wegen der engen Zusammenarbeit der Richterinnen und Richter in einem Kollegialgericht und der sich daraus ergebenden persönlichen Beziehung der Mitglieder einer Kammer entgegengetreten (Schriftsatz vom 22. Dezember 2022, GA 166). Darüber hinaus beantragt sie eine Gerichtsstandsbestimmung durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht.
II. Das Ablehnungsgesuch der Beklagten gegen die Handelsrichterinnen und Handelsrichter der Kammern für Handelssachen des Landgerichts Flensburg sowie die Selbstablehnungen der beiden Kammervorsitzenden sind zulässig und begründet.
1. Über das Ablehnungsgesuch ist nach § 45 Abs. 3 ZPO durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht als das im Rechtszug zunächst höhere Gericht zu entscheiden, da das Landgericht Flensburg nach der Ablehnung sämtlicher Handelsrichterinnen und Handelsrichter beider Kammern für Handelssachen nicht mehr in der Lage ist, in ordnungsgemäßer Besetzung, also durch den mit geschäftsplanmäßigen Vertretern ergänzten Spruchkörper (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 34. Aufl., § 45, Rn. 3), zu entscheiden, ohne dass es darauf ankommt, dass der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts ein Nachrücken der Handelsrichterinnen und Handelsrichter aus der Kammer für Handelssachen II in die Kammer für Handelssachen I nicht vorsieht. Da sämtliche Handelsrichterinnen und Handelsrichter des Landgerichts von der Ablehnung betroffen sind, kann ein vertretungsweises Nachrücken nur in der Person des Vorsitzenden der Kammer (nämlich durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan berufenen Vorsitzenden der 7. Zivilkammer), nicht aber in Person der Handelsrichterinnen und Handelsrichter erfolgen. Auch ein ersatzweises Tätigwerden der K...