Entscheidungsstichwort (Thema)

Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das an sich zuständige Landgericht ist an einer Ausübung des Richteramtes rechtlich verhindert (§ 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), wenn alle Handelsrichter sämtlicher Kammern für Handelssachen erfolgreich abgelehnt wurden beziehungsweise nach § 41 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen sind, weil dann eine ordnungsgemäße Besetzung einer Kammer für Handelssachen bei diesem Landgericht nicht mehr möglich ist.

2. Im Rahmen der (zuständigkeitsbegründenden) Bestimmung eines (an sich unzuständigen) Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist - entsprechend dem Vorgehen bei § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO - nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten und unter Berücksichtigung der Prozesswirtschaftlichkeit auszuwählen. Die Lage bei § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist mit der bei § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vergleichbar. Auch bei Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO wird ein Gericht für ein Verfahren zuständig, für das es zumindest mit Blick auf einen Beteiligten nicht von vorneherein zuständig war.

 

Normenkette

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches OLG (Beschluss vom 06.02.2023; Aktenzeichen 16 W 8/23)

 

Tenor

Zuständiges Gericht ist das Landgericht Kiel.

 

Gründe

I. Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 28. November 2022 Klage vor der Kammer für Handelssachen des Landgerichts Flensburg auf Zahlung eines Kaufpreises aus mehreren mit der Beklagten abgeschlossenen Werklieferungsverträgen in Höhe von 189.088,48 EUR nebst Zinsen sowie Ersatz außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten erhoben. Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen I, der die Sache nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts zugewiesen ist, hat gemäß § 48 ZPO angezeigt, dass die Geschäftsführerin der Klägerin, X, Handelsrichterin in dieser Kammer sei. Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen II des Landgerichts Flensburg, der nach der Geschäftsverteilung des Landgerichts die Kammer für Handelssachen I in erster Linie als Vertreter zur Entscheidung über die Selbstablehnung ergänzt hätte, hat ebenfalls nach § 48 ZPO angezeigt, dass die Geschäftsführerin der Klägerin auch in seiner Kammer als Handelsrichterin eingesetzt sei.

Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts als weiterer Vertreter der Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen berufene Vorsitzende der 7. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg hat die Parteien sodann darauf hingewiesen, dass nach der herrschenden Meinung die Besorgnis der Befangenheit der Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen I und II sowie sämtlicher Handelsrichterinnen und Handelsrichter wegen der Zugehörigkeit der Geschäftsführerin der Klägerin als Handelsrichterin in beiden Kammern bestehen dürfte (Verfügung vom 5. Dezember 2022, GA 158). Daraufhin hat die Beklagte die Handelsrichterinnen und Handelsrichter beider Kammern für Handelssachen des Landgerichts Flensburg wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und ist der weiteren Tätigkeit der Kammervorsitzenden wegen der engen Zusammenarbeit der Richterinnen und Richter in einem Kollegialgericht und der sich daraus ergebenden persönlichen Beziehung der Mitglieder einer Kammer entgegengetreten (Schriftsatz vom 22. Dezember 2022, GA 166). Darüber hinaus beantragt sie eine Gerichtsstandsbestimmung durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht.

Mit Beschluss vom 06.02.2023 - 16 W 8/23 - hat der 16. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichtes die Selbstablehnungen der beiden Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen des Landgerichts Flensburg sowie das gegen sämtliche Handelsrichter dieser Kammern gerichtete Ablehnungsgesuch für begründet erklärt und das Verfahren dem 2. Zivilsenat zur Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt.

Der Senat hat den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt, diese haben hiervon jedoch keinen Gebrauch gemacht.

II. Als zuständiges Gericht wird das Landgericht Kiel bestimmt.

1. Die Voraussetzungen für eine Gerichtsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sind gegeben.

Das an sich zuständige Landgericht Flensburg ist im vorliegenden Fall an einer Ausübung des Richteramtes rechtlich verhindert (§ 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), weil alle Handelsrichter beider Kammern für Handelssachen - mit Ausnahme der Geschäftsführerin der Klägerin, die bereits gemäß nach § 41 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist - erfolgreich abgelehnt wurden (vgl. den Beschluss des 16. Zivilsenates vom 06.02.2023 - 16 W 8/23). Damit ist am Landgericht Flensburg eine ordnungsgemäße Besetzung einer Kammer für Handelssachen nicht mehr möglich, sodass das Landgericht Flensburg insgesamt an einer Ausübung des Richteramtes rechtlich verhindert ist (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 26. März 2020 - 1 AR 57/19 -, Rn. 14, juris; Anders/Gehle-Becker, ZPO, 80. Aufl. 2022, § 36 Rn. 13; allgemein, wenn eine ordnungsgemäße Besetzung des Spruchkörpers nicht mehr in Betracht kommt: Musielak/Voit/Heinrich, 19. Aufl. 2022, ZPO § 36 ...

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