Entscheidungsstichwort (Thema)
Sittenwidrige Schädigung bei einem erst in 2019 erworbenen Diesel-Kraftfahrzeug mit einer möglichen Abgas-Abschaltung aus 2014 nur, wenn eine Stilllegung des Fahrzeugs erfolgt
Leitsatz (amtlich)
1. Wer erst 2019 ein erstmals 2014 - also vor Aufdeckung des Dieselabgas-Skandals - zugelassenes Diesel-Kraftfahrzeug erwirbt, erleidet nicht einen gemäß § 826 BGB als "ungewollte Verbindlichkeit" ersatzfähigen Schaden, sollte sich nach dem Erwerb herausstellen, dass das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abgas-Abschaltung ausgerüstet war und deshalb etwa auf Veranlassung des Kraftfahrtbundesamtes ein Software-Update aufgespielt werden muss. Sein Erwerb war erkennbar von vornherein mit diesem Risiko belastet.
2. Ein Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB käme in einer derartigen Konstellation erst dann in Betracht, wenn eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht mehr durch technische Maßnahmen wie ein Software-Update zu beseitigen ist und deshalb die Stilllegung des Fahrzeugs erfolgt.
Normenkette
BGB §§ 249, 826
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 5. August 2021, Az. 4 O 355/20, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Flensburg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Gründe
I. Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche des Klägers nach dem Kauf eines von der Beklagten hergestellten Kraftfahrzeugs.
Der Kläger kaufte das gebrauchte Fahrzeug des Typs Mercedes-Benz C250 BlueTEC 150 kW mit der FIN XXX am 23. Januar 2019 bei einem Autohaus B. zu einem Preis von EUR 23.000,00. Das Fahrzeug war am 26. September 2014 erstmals zugelassen worden und hatte eine Laufleistung von 60.712 Kilometern. In dem Fahrzeug ist ein Motor des Typs OM 651 verbaut. Das Fahrzeug ist nach Euro 6 zugelassen.
Für das Fahrzeug wurde unstreitig kein verpflichtender Rückruf zur Entfernung einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Emissionskontrollsystem angeordnet. Es ist unstreitig, dass auf das streitgegenständliche Fahrzeug ein Update der Motorsteuerungssoftware aufgespielt wurde, welches das Abgasverhalten verändert hat.
Der Kläger hat behauptet, in dem Fahrzeug sei eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden. Die Abgassteuerung sei so ausgelegt, dass sie faktisch nur auf dem Prüfstand so funktioniere, dass die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden. Es sei eine Prüfstandserkennung vorhanden.
Im Einzelnen hat der Kläger behauptet:
- ein freiwilliger Rückruf indiziere, dass eine Abschalteinrichtung vorhanden gewesen sei;
- es sei eine Kühlmittel-Sollwert-Temperatur-Regelung vorhanden;
- die Abgasrückführung sei temperaturgesteuert (Thermofenster);
- die Beimischung von AdBlue verringere sich nach Ausstoß von 17,6 Gramm Stickoxiden (Bit 13 Funktion). Dieser Ausstoß entspreche dem Prüfstandslauf;
- es sei eine Funktion verbaut, dass das Fahrzeug nach 1.200 Sekunden in den "schmutzigen Abgasmodus" wechselt (Bit 14 Funktion). Der NEFZ dauere 1.180 Sekunden;
- die Software sei so eingestellt, dass nach 11 Kilometern in den "schmutzigen Abgasmodus" gewechselt werde. Das entspreche der Distanz des NEFZ;
- es sei eine "Slipguard" Funktion vorhanden. Anhand von Geschwindigkeit, Beschleunigung und Straßenneigung werde erkannt, dass das Fahrzeug auf dem Prüfstand sei. Es werde dann ein anderer Abgasreinigungsmodus verwendet.
Der Kläger hat behauptet, die Beklagte habe auch vorsätzlich gehandelt. Zumindest der Entwicklungsvorstand Dr. Weber habe von den Abschalteinrichtungen gewusst. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) habe am 23. Mai 2018, 3. August 2018 und 20. Dezember 2019 einen verpflichtenden Rückruf für Motoren des Typs OM 651 mit Euro 6 erlassen. Der Kläger hat behauptet, der streitgegenständliche Fahrzeugtyp habe eine durchschnittliche Laufleistung von 400.000 km.
Mit der Klage verlangte der Kläger Erstattung des Kaufpreises abzüglich eines Nutzungsvorteils gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, Freihaltung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, die Feststellung des Annahmeverzugs und die Feststellung einer Schadensersatzpflicht.
Die Beklagte hat unter anderem bestritten, dass das Fahrzeug über eine Prüfstandserkennung verfüge. Die temperaturanhängige Steuerung der Abgasrückführung und die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Selbst wenn die temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) 715/2007 sei, begründe dies eine Sittenwidrigkeit nur, wenn weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders ver...