Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung der Stadt zugunsten eines Pedelecfahrers, der mit ca. 15/16 km/h eine gut sichtbare, aber ungesicherte ca. 6 cm hohe Bordsteinkante überfährt und dabei stürzt
Leitsatz (amtlich)
1. In Schleswig-Holstein ist die Verkehrssicherungspflicht bezüglich öffentlicher Wege und Plätze eine hoheitliche Aufgabe und damit eine Amtspflicht.
2. Eine optisch wegen des Kontrastes gut erkennbare, ca. 6 cm hohe, ungesicherte Bordsteinkante zwischen einem noch nicht ganz fertig gestellten Parkstreifen (Baustelle wegen fehlender Deckschicht) und einem kombinierten Fuß-/Radweg erfordert keine besonderen Sicherungsmaßnahmen.
3. Die Straßenverkehrsbehörde hat grundsätzlich Ermessen, wo und welche Warnschilder/Absperrungen anzubringen sind. Ausmaß und Art der Sicherung richten sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art und dem Stadium des Bauvorhabens, Art und Umfang des Verkehrs sowie nach Ausmaß und Art der von der Baustelle ausgehenden Gefahr und nach der Erkennbarkeit der Gefahr. Innerhalb einer deutlich erkennbaren Baustelle muss nicht jede Unebenheit besonders gekennzeichnet sein.
4. Die haftungsbegründende Verkehrssicherungspflicht beginnt grundsätzlich erst dort, wo auch für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage überraschend eintritt und nicht rechtzeitig erkennbar ist. Eine Pedelecfahrer, der mit ca. 15/16 km/h unterwegs ist, muss beim Überfahren einer Bordsteinkante ganz besondere Obacht walten lassen; ggf. muss er seine Geschwindigkeit deutlich reduzieren oder absteigen und sein Pedelec über den Bordstein schieben.
Normenkette
BGB §§ 254, 839; GG Art. 34; StrWG SH § 10 Abs. 4; StVO § 45 Abs. 3
Tenor
Die Berufung des Klägers vom 26.04.2021 gegen das am 26.03.2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Lübeck ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 1.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen Verletzung einer Amtspflicht auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Er war am 10.08.2019 zwischen 15:30 Uhr und 15:45 Uhr in der P. Straße in L. in Höhe der dortigen Hausnummer 4 mit seinem Pedelec über eine ca. 6 cm hohe Bordsteinkante gestürzt und hatte sich dabei nicht unerhebliche Verletzungen zugezogen (u.a. multiple blutende Wunden im Gesicht und an der linken Hand, die ärztlich versorgt werden mussten). Durch den Sturz wurden auch das Pedelec, die Brille und die Bekleidung des Klägers beschädigt.
Der Kläger hat behauptet, Ursache für den Sturz sei eine überraschende und ungesicherte Fräskante auf dem Fahrradweg zwischen dem Parkstreifen und dem anschließenden kombinierten Geh-/Radweg gewesen. Die Unfallstelle sei in keinster Weise gesichert gewesen. Auch hätten sich dort keine Schilder gefunden, die auf die Gefahrenstelle hinwiesen.
Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes (mindestens 1.000 EUR) sowie den Ersatz von materiellen Schäden in Höhe weiterer 500 EUR und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,71 EUR jeweils mit Zinsen seit Rechtshängigkeit.
Die Beklagte hat den Unfall mit Nichtwissen bestritten. Sie ist darüber hinaus der Ansicht, ihr sei keine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten vorzuwerfen, da eine abhilfebedürftige Gefahrensituation nicht bestanden habe.
Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil vom 26.03.2021 die Klage abgewiesen. Der Höhenunterschied sei - ausweislich des Lichtbildes Anlage K2 - erkennbar und jedenfalls nicht überraschend gewesen. Der Kläger hätte deshalb im Zweifel absteigen und sein Rad auf den angrenzenden Straßenabschnitt heben müssen. Im Übrigen habe er seine Geschwindigkeit von 15/16 km/h nicht der baulichen Gestaltung der Straße angepasst. Angesichts des gut sichtbaren Bordsteins habe auch keine Pflicht zur Aufstellung von Warnschildern bestanden.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er ist der Ansicht, die hohe Bordsteinkante sei für ihn nicht erkennbar und der Unfall deshalb auch nicht vermeidbar gewesen. Im Übrigen hätte die Streithelferin die Baustellenwarnbeschilderung nicht voreilig schon abbauen dürfen. Angesichts der fehlenden Warnbeschilderung sei der Kläger auch nicht gehalten gewesen, an der Unfallstelle mit bloßer Schrittgeschwindigkeit zu fahren.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld (mindestens 1.000 EUR) sowie materiellen Schadenersatz in Höhe von weiteren 500 EUR und 201,71 EUR vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen, jeweils nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Streithelferin hat im zweiten Rechtszug keinen Antrag angekündigt.
Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Parteien im zwe...