Leitsatz (amtlich)
Ein gesetzmäßiges Auswahlverfahren nach § 46 EnWG, das auf einen "Wettbewerb um die Netze" zielt, muss darauf ausgerichtet sein, den für die zukünftige Laufzeit erwartbar besten Bewerber auszuwählen, wobei sich die Entscheidung nach dem Gesetz vorrangig an den Kriterien des § 1 Abs. 1 EnWG zu orientieren hat. Eine Ausschreibung ist bereits dann nicht zu billigen, wenn sie nicht hinreichend sachgerecht ist. Der Ausgestaltungsspielraum der Gemeinde findet daher seine Grenze dort, wo die Kriterien bzw. die dazu aufgestellten Maßstäbe die objektiven Anforderungen an den Netzbetrieb - die Versorgungsaufgabe in den gesetzlich vorgegebenen Dimensionen - ersichtlich unzureichend abbilden.
Normenkette
EnWG § 1 Abs. 1, § 46
Tenor
Auf die Berufung der Verfügungsklägerin wird das Urteil der Kammer für Handelssachen I des Landgerichts Kiel vom 5. November 2021 unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert:
Die Verfügungsbeklagte wird im Wege der einstweiligen Verfügung verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,- EUR, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu unterlassen, die Verfahren zum Abschluss neuer Wegenutzungsverträge nach § 46 Abs. 2 EnWG für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen, die zu dem Elektrizitätsversorgungsnetz und zu dem Gasversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung in ihrem Gemeindegebiet gehören, auf der Basis der 1. Verfahrensbriefe vom 22. Januar 2021 fortzusetzen, soweit
1. bei dem Kriterium der "Versorgungssicherheit" die Aufgabe der Minimierung der Dauer von Versorgungsunterbrechungen allein anhand der Reaktionszeiten bei einer einzigen bestimmten Störung abgebildet wird,
2. bei dem Unter-Kriterium "Reaktionszeit bei Störungen"
a) die auf den Zeitraum zwischen dem Eingang der Störungsmeldung und dem Eintreffen am Ort der Störung für die Tages- und die Nachtschicht abstellenden Unter-Unter-Kriterien mit jeweils 30 und insgesamt mit 60 Punkten gewichtet sind, während das Unter-Unter-Kriterium "Zeitraum zwischen Eintreffen am Ort der Störung und Wiederherstellung der Versorgung im Verteilernetz" (bzw. im Fall des Gasnetzes das Unter-Unter-Kriterium "Zeitraum zwischen Eintreffen am Ort der Störung und Wiederherstellung der Versorgung bei Leckage im Verteilernetz") nur mit 20 Punkten gewichtet ist,
b) bei dem zugehörigen Unter-Unter-Kriterium "Wiederherstellung der Versorgung" allein auf die Maximalzeit abgestellt wird.
Im Übrigen werden die Verfügungsanträge vom 22. Juli 2021 zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Verfügungsbeklagte 7/18 und die Verfügungsklägerin 11/18.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 200.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Verfügungsklägerin, die aufgrund Ende 2021 ausgelaufener Konzessionsverträge das Strom- und das Gasnetz auf dem knapp 20.000 Einwohner umfassenden Gebiet der Verfügungsbeklagten betreibt, wendet sich zu fünf Aspekten gegen die Ausgestaltung des Verfahren zu deren Neuvergabe.
Nach öffentlicher Bekanntmachung der Absicht zu neuen Konzessionierungen bekundete die Verfügungsklägerin ihr Interesse. Sie erhielt daraufhin am 1. Februar 2021 die von den jetzigen Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten entworfenen sog. 1. Verfahrensbriefe (Anlage ASt 10, Bl. 43, und ASt 11, Bl. 66), aus denen sich jeweils die Auswahlkriterien sowie ein Muster-Konzessionsvertrag ergaben. In deren Abschnitten C. II. (Weitere Anforderungen und Ziele der Stadt) heißt es u.a.:
1. Versorgungssicherheit
Von maßgeblicher Bedeutung für den künftigen Netzbetrieb ist aus Sicht der Stadt die Sicherstellung der Versorgungssicherheit des Netzbetriebs im Konzessionsgebiet. Es soll möglichst zu jeder Zeit und in jeder Lastsituation eine vollumfängliche Versorgung gewährleistet sein. Der Bewerber hat gemäß §§ 11, 14 EnWG ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz zu betreiben.
1.1. Reaktionszeit bei Störungen
Zur Erbringung eines zuverlässigen Netzbetriebs ist eine möglichst kurze Reaktionszeit bei Störungen vom Bewerber zu gewährleisten. Bei eintretenden Störungen soll aus Sicht der Stadt so zügig wie möglich ein für die Störungsbeseitigung qualifizierter Mitarbeiter am Ort der Störung eintreffen. Bewertet wird ausschließlich der maximal zu erwartende Zeitraum zwischen dem Eingang der Störungsmeldung bis zum Eintreffen eines qualifizierten Mitarbeiters des Entstörungsdienstes am Ort der Störung. Der Bewerber soll anhand einzelner Schritte und deren jeweiliger maximaler Dauer den Prozessablauf vom Eingang der Störungsmeldung bis zum Eintreffen am Ort der Störung darstellen. Die Stadt erwartet eine für einen Dritten nachvollziehbare Darstellung des maximal zu erwartenden Zeitraums zwischen dem Eingang der Störungsmeldung bis zum Eintreffen eines qualifizierten Mitarbeiters des Entstörungsdienstes am Ort...