Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerster Geburtsschaden bei verspäteter Schnittentbindung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Klage gegen einen beamteten Chefarzt ist - soweit daneben auch der Anstellungsträger in Anspruch genommen wird - wegen des Haftungsprivilegs aus § 839 Abs. 1 S. 2 BGB unbegründet.
2. Bei der Behandlung von Minderjährigen ist im Zweifel anzunehmen, dass der Vertrag als Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) mit den gesetzlichen Vertretern des minderjährigen Patienten zustande kommt.
3. Das Unterlassen eines Tastbefundes zur Bestimmung der Kindslage vor Anlegen des Wehentropfs stellt einen einfachen Behandlungsfehler dar.
4. Sowohl die vorzeitige Sprengung der Fruchtblase bei einer Frühgeburt (29. SSW) nach unklarem Tastbefund als auch die einstündige Nichtreaktion der behandelnden Ärzte auf ein länger andauerndes, über 30 Minuten hochpathologische Muster ausweisendes CTG stellen grobe Behandlungsfehler dar.
5. Auch wenn die schicksalhaft bedingte Frühgeburt als wesentliche Hauptursache des Hirnschadens anzusehen ist, gibt es daneben noch denkbare zusätzliche, prä-, peri- und postnatale Ursachen für den eingetretenen Hirnschaden - wie hier die intrapartale Sauerstoffversorgungsstörung -, ohne deren Vorhandensein die besondere Schwere des Hirnschadens schlicht nicht vorstellbar ist. Wegen der fehlenden Abgrenzbarkeit der verschiedenen Ursachen muss sich der Schädiger - wegen der Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern - den Gesamtschaden zurechnen lassen.
6. Eine Lungenentfaltungsstörung wegen Surfactantmangels ist zwar geradezu ein beispielhafter Grund für hypoxische Hirnschäden bei Frühgeborenen, neben der Unreife kann die Lungenentfaltungsstörung aber auch durch eine intrapartal verursachte Hypoxie verursacht oder jedenfalls verstärkt worden sein.
7. Zur Bemessung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 350.000 DM (= 178.952 Euro) bei schwersten lebenslangen Behinderungen infolge eines Geburtsschadens ("Shunt-pflichtiger - also ventilversorgter - posthämorrhagischer Hydrocephalus internus" verbunden mit einer "schweren infantilen Cerebralparese - Mischform mit Spannungsathetose -", allgemeine schwere Entwicklungsstörung aller Großhirnfunktionen, d.h. der psychomentalen, der psychosozialen, psychomotorischen und der Sprachentwicklung, schwere, vorwiegend spastische, beinbetonte Tetraparese, die Gehen und Aufrechtsitzen ausschließt, Erforderlichkeit ständiger Hilfe einer Pflegeperson im Rahmen einer Rundumbetreuung Tag und Nacht).
Verfahrensgang
LG Itzehoe (Urteil vom 20.01.1997; Aktenzeichen 2 O 758/90) |
Tenor
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zu 2) und 3) wird das am 20.1.1997 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des LG Itzehoe teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:
1. Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 178.952,15 Euro (= 350.000 DM) nebst 4 % Zinsen seit dem 6.7.1990 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, der Klägerin alle materiellen und weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der ärztlichen Behandlung während der Geburt am 17.8.1980 in der Klinik des Beklagten zu 2) (Kreiskrankenhaus P.) im Zusammenhang mit einem posthämorrhagischen Hydrocephalus mit schwerer infantiler Cerebralparese (Mischform mit Spannungsathetose) entstanden sind oder in Zukunft noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht von Gesetzes wegen auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Berufung des Beklagten zu 2) wird zurückgewiesen.
5. Kosten des 1. Rechtszuges: Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Klägerin 80 % und der Beklagte zu 2) 20 %. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1), 3), 4) und 5) trägt jeweils die Klägerin. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) trägt dieser selbst.
Kosten des 2. Rechtszuges: Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Klägerin 54 % und der Beklagte zu 2) 46 %. Die Klägerin trägt außerdem die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1), 3), 4) und 5). Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) trägt dieser selbst.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Beklagten zu 2) wird gestattet, die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, es sei denn, die Klägerin leistet vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe.
7. Die Beschwer beträgt für die Klägerin 230.081 Euro (= 450.000 DM) wegen Abweisung der Klage gegen die Beklagte zu 3) und für den Beklagten zu 2) 281.211 Euro (= 550.000 DM).
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes (nicht unter 350.000 DM) sowie Feststellung der Haftung für alle materiellen und weiteren immateriellen Schäden wegen fehlerhafter medizinischer Behandlung anlässlich ihrer Geburt am 17.8.1980 im Kreiskrankenhaus des Beklagten zu 2) Die Mutter der Klägerin, Frau B.W...