Entscheidungsstichwort (Thema)
Bemessung des Hinterbliebenengeldes
Leitsatz (amtlich)
1. Es gibt keine Legaldefinition für "seelisches Leid". Mit dem Hinterbliebenengeld soll der Trauerschaden, der die erlittenen seelischen Beeinträchtigungen umfasst, abgegolten werden.
2. Der Betrag von 10.000,00 EUR stellt nach dem Sinn und Zweck der neu eingefügten Regelungen (§§ 844 Abs. 3 BGB, 10 Abs. 3 StVG) keine Obergrenze, sondern Anker, Richtschnur und Orientierungshilfe für die Bemessung im Einzelfall dar. Bei der konkreten Bemessung ist § 287 ZPO anwendbar.
3. Schockschäden für psychisches Leid einerseits und Hinterbliebenengeld für seelisches Leid andererseits stehen nicht in einem Stufenverhältnis zueinander, sondern es handelt sich um zwei unterschiedliche Ansprüche. Andauernde seelische Schmerzen können zumindest gleichwertige oder sogar - je nach Dauer und Intensität - höhere Betroffenheiten auslösen.
4. Wie beim Schmerzensgeld handelt es sich auch beim Hinterbliebenengeld um einen Anspruch wegen einer immateriellen Einbuße. In beiden Fällen sind sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion zu berücksichtigen.
5. Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes muss sich in das stimmige Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Rechtsprechung zum Schmerzens-/Hinterbliebenengeld einfügen.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 844 Abs. 3; StVG § 10 Abs. 3; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1; ZPO § 287
Nachgehend
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.000,00 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.04.2019 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird ferner verurteilt, die Klägerin von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 650,34 EUR freizustellen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreites in beiden Rechtszügen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird zugelassen
Gründe
I. Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von mindestens 10.000,00 EUR.
Am Donnerstag, den 13.12.2018 gegen 16:45 Uhr kam es auf der B 77 zwischen K. und R. zu einem schweren Verkehrsunfall, in dessen Folge der Vater der Klägerin, Herr D. (geb. am ... 1937), tödlich verunglückte. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs (SUV Ford Kuga, amtl. Kennzeichen: ...), der Rentner Q., hatte bei der Ausfahrt vom Parkplatz H. den in Fahrtrichtung R. fahrenden, vorfahrtsberechtigten Pkw des Vaters der Klägerin übersehen. Es kam zum Zusammenstoß beider Fahrzeuge, an denen jeweils wirtschaftlicher Totalschaden entstand. Der Vater der Klägerin verstarb noch am Unfallort.
Erst eine Woche später, am Abend des 20.12.2018, wurde die Klägerin per WhatsApp von ihrer Schwester S. (geb. ... 1966), über den Tod des Vaters informiert. Die Polizei hatte zunächst keine Informationen über etwaige Angehörige und konnte erst spät über das Standesamt K. die Adresse der Schwester der Klägerin ermitteln. Der Verstorbene war Witwer und hatte zwei Kinder, die Klägerin und ihre ältere Schwester S.. Die Klägerin, die seit dem ... 2019 mit ihrem vormaligen Lebenspartner, T. A., verheiratet ist, hat einen heute 21-jährigen Sohn aus erster Ehe.
Zum Unfallzeitpunkt befand sich die Klägerin noch in der Probezeit. Sie hatte zum 01.09.2018 eine neue Stelle als "Leiterin Einkauf" bei ... in B. angenommen. Zu ihrem Vater bestand ein gutes Verhältnis. Die Klägerin verfügte über sämtliche Vollmachten ihres Vaters (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Generalvollmacht), außerdem war sie erste Ansprechpartnerin, wenn es für ihren Vater "etwas zu regeln" gab. Nach dem Unfalltod kümmerte sich die Klägerin zusammen mit ihrer Schwester um die Haushaltsauflösung und die Beerdigung ihres Vaters (wunschgemäß eine anonyme Seebestattung). Bis zum heutigen Tag leidet die Klägerin unter Schlafproblemen. In ärztliche Behandlung hat sie sich nicht begeben. Sie versucht, das Problem mit "Baldrian" in den Griff zu bekommen. Von dem Hinterbliebenengeld soll einen Teil ihr Sohn bekommen, im Übrigen möchte sie - sobald die derzeitigen Coronabeschränkungen es wieder zulassen - mit ihrer Familie einen Urlaub an der Nordsee machen.
Mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts S. (Az.: ...) wurde der Unfallverursacher Q. wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 Abs. 1 StGB) auf Bewährung unter Strafvorbehalt zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf 1 Jahr festgesetzt und dem Verurteilten auferlegt, einen Geldbetrag von 1.000,00 EUR an den Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr e.V. zu zahlen. Nach Ablauf der Bewährungszeit wurde mit Beschluss vom 21.10.2020 festgestellt, dass es mit der Verwarnung sein Bewenden hat, die verhängte Geldstrafe musste mithin nicht gezahlt werden.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 27.03.2019 (Anlage K 3) forderte die Klägerin u.a. die Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Höhe von 10.000,00 EUR unter Fristsetzung bis zum 05.04.2019. Mit Schreiben vom...