Entscheidungsstichwort (Thema)

Eine hälftige Schadensteilung dem Grunde nach kommt in Betracht, wenn der Busfahrer schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat und der Fahrgast, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, dabei verletzt wird.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei Businsassenunfällen verdrängt grundsätzlich das Eigenverschulden des Fahrgastes, der sich nicht ordnungsgemäß festgehalten hat, vollständig die Gefährdungshaftung aus einfacher Betriebsgefahr. Bei Vorliegen besonderer Umstände kann sich das Eigenverschulden des Fahrgastes jedoch verringern. Eine Schadensteilung 50 : 50 kommt in Betracht, wenn der Busfahrer schuldhaft eine Notbremsung vorgenommen hat.

2. Grünes Ampellicht an einer Kreuzung bedeutet zwar, dass der Verkehrsteilnehmer nach den Regeln des § 9 StVO abbiegen darf. Nach § 9 Abs. 3 StVO muss er jedoch auf Fußgänger besondere Rücksicht nehmen und -wenn nötig- warten.

3. Jeder Fahrgast ist grundsätzlich selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische oder zu erwartende Bewegungen eines Busses nicht zu Fall kommt. Im Stadtverkehr muss ein Fahrgast jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern rechnen und das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigen. Dazu gehört u.a. auch, bei ausgelöstem Haltesignal solange sitzen zu bleiben, bis der Bus die Haltestelle erreicht hat. Bei stehendem Transport sollten sich Fährgäste im fortgeschrittenen Alter mit beiden Händen an der Haltestange festhalten.

 

Normenkette

BefBedV § 4 Abs. 3 S. 5; BGB § 254; GKG § 21; StVG §§ 7, 9, 18; StVO § 9 Abs. 3, § 37 Abs. 2 Sätze 2, 3 Nr. 1; ZPO §§ 304, 538 Abs. 2 Nr. 4

 

Verfahrensgang

LG Lübeck (Urteil vom 17.06.2022; Aktenzeichen 9 O 2/22)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 17. Juni 2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck geändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Grunde nach verpflichtet sind, der Klägerin aus dem Unfallereignis vom 17.11.2020 Kreuzung L.../S... in L sämtliche materiellen Schäden nach einer Quote von 50 % und sämtliche immateriellen Schäden unter Berücksichtigung einer Mitverschuldensquote von 50 % zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergeht oder übergegangen ist.

2. Im Übrigen wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Entscheidung über Höhe und die Kosten, auch des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Lübeck zurückverwiesen.

3. Gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 17. November 2020 in L ereignet hat.

Die zum Unfallzeitpunkt 82 Jahre alte Klägerin fuhr gegen 17:40 Uhr als Passagierin eines Linienbusses der Beklagten zu 2) zu ihrer Wohnung in der Senioreneinrichtung H.-R.. Der Beklagte zu 1), der seit 30 Jahren als Busfahrer arbeitet, lenkte den Bus. Die Klägerin saß auf einem Zweier-Sitzplatz direkt an einem der Ausgänge und beabsichtigte, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und betätigte deshalb von ihrem Sitzplatz aus das Haltesignal. Neben ihr befanden sich lediglich fünf weitere Fahrgäste im Bus. Bei Regen und Dunkelheit näherte sich der Beklagte zu 1) mit dem Bus dem Kreuzungsbereich L-straße/S./E.-straße/ NH-straße und wollte an der Kreuzung von der L.-straße kommend nach links in die Straße S.-berg abbiegen, wo sich dann alsbald hinter dem Kreuzungsbereich die Haltestelle befindet, an der die Klägerin aussteigen wollte. Der Linienbus hielt zunächst wegen Rotlichts an der Kreuzung. Als das Licht auf Grün umsprang, fuhr der Linienbus in den Kreuzungsbereich ein. Die Klägerin stand auf und positionierte sich am Ausgang. Sie sicherte sich mit einer Hand an der Haltestange ab, während sie in der anderen Hand einen Regenschirm und ihre Handtasche festhielt.

Im Kreuzungsbereich musste der Beklagte zu 1) den Linienbus zunächst nochmal kurz anhalten, da er vorfahrtsberechtigten Verkehr durchlassen musste. Die im Kreuzungsbereich anwesende Fußgängerin K. wollte die Straße S.-berg aus Richtung E.-straße im Bereich einer Fußgängerfurt bei für sie zeigendem Grünlicht für Fußgänger überqueren. Der Beklagte zu 1) nahm die Fußgängerin K. zunächst nicht wahr und fuhr wieder an, um den Linksabbiegevorgang in die Straße S.-berg zu vollenden. Nachdem der Beklagte zu 1) die Fußgängerin jedoch wahrgenommen hatte, nahm er eine scharfe Notbremsung vor, als sie sich nur etwa einen Meter vor dem Linienbus befand. Trotz der Notbremsung erfasste er die Fußgängerin K. mit dem Bus und brachte diese zu Fall, allerdings offenbar ohne dass sie Verletzungen davontrug.

Durch die plötzliche Notbremsung stürzte die Klägerin, der es nicht gelang, sich an der Haltestange festhalten. Sie ging mit dem Kopf in Fahrtrichtung voran und ohne wahrnehmbare Sicherungs- und Abwehrbewegungen direkt zu Boden, wo sie n...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?