Entscheidungsstichwort (Thema)
Schadensersatz für Pflegemehraufwand eines aufgrund ärztlichen Behandlungsfehlers bei der Geburt Schwerstbehinderten
Leitsatz (amtlich)
1. Allein die nächtliche Rufbereitschaft der Eltern eines 16-jährigen behinderten Kindes stellt noch keine kommerzialisierbare Leistung dar.
2. Für die Berücksichtigung der auch für ein gesundes Kind zu leistenden Pflege können die Richtlinien der Pflegeversicherung ein angemessener Maßstab sein.
3. Die Vergütung für pflegerische Hilfskräfte im Gesundheitswesen ist ein geeigneter Maßstab für den zu ersetzenden Schaden. Bei Schwerstpflege kann auch im Einzelfall eine darüber liegende Vergütung angemessen sein.
Normenkette
BGB §§ 249, 823
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 10.02.2006; Aktenzeichen 8 O 29/03) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 10.2.2006 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des LG Kiel unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen geändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.230 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 20.5.2003 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Beklagte 1/10, der Kläger 9/10.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung i.H.v. 110 % des beizutreibenden Betrages abzuwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I. Der am 5.5.1986 geborene Kläger ist aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler bei seiner Geburt sowie bei der postpartalen Versorgung schwerstbehindert. Durch Urteil des Senats vom 11.11.1998 ist u.a. die Schadensersatzpflicht des Beklagten, seinerzeit Träger des Kreiskrankenhauses K., für sämtliche materiellen Schäden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind, festgestellt worden. Mit der Klage macht der Kläger den Pflegemehraufwand aufgrund seiner Behinderung seit Geburt geltend.
Der Kläger leidet u.a. an einer Cerebralparese, kann sich nicht eigenständig bewegen und wird über eine PEG- Sonde ernährt, es besteht Urin- und Stuhlinkontinenz. Wegen der Einzelheiten seiner Behinderungen wird auf das Gutachten der Privatgutachterin P. vom 2.9.2007, Blatt 23 ff. der Akten, verwiesen.
Seine Klage über 479.297,50 EUR nebst Zinsen ist nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen R. vom 1.7.2005, Blatt 268 ff. der Akten, sowie deren Anhörung im Termin am 13.12.2005 mit der Begründung abgewiesen worden, über die bereits erbrachten Leistungen hinaus i.H.v. 193.726,36 EUR durch den Beklagten sowie i.H.v. 100.132,74 EUR durch die Pflegeversicherung bestehe kein weiterer Anspruch.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung und beantragt, das am 10.2.2006 verkündete Urteil des LG Kiel, 8. Zivilkammer, Geschäftsnummer 8 O 29/03, aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an ihn 479.297,50 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wendet sich im Wesentlichen gegen die Bewertung/Berechnung des LG bezüglich der in der Nacht zu erbringenden Pflege sowie die Höhe des zu berücksichtigenden Abzugs für die Pflege eines gesunden Kindes. Der Beklagte ist der Auffassung, das LG habe darüber hinaus den täglichen Pflegebedarf, soweit dieser auf die Morgen- und Abendtoilette, Zwischenmahlzeiten, Wege im Haus und Spaziergangsvorbereitung usw. entfalle, zu hoch bewertet. Auch sei der Abzug für den außerhalb des Hauses aufgebrachten Pflegeaufwand während des Aufenthalts des Klägers in Kindergarten und Schule zu gering.
Im Übrigen wird vollinhaltlich auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen. Die im zweiten Rechtszug gewechselten Schriftsätze waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
II. Die Berufung hat teilweise Erfolg.
1. a. Keine Bedenken bestehen, soweit das LG bei der Ermittlung des täglichen Pflegebedarfs dem Gutachten der Sachverständigen R. gefolgt ist. Das Gutachten ist gut nachvollziehbar, überzeugend, Unstimmigkeiten bzw. Unklarheiten hat die Sachverständige in ihrer Anhörung vor dem LG näher erläutert und richtig gestellt. Dies hat das LG auch in seinem Urteil (Ziff. 1a.-m.) auch berücksichtigt. Die Ausführungen des Beklagten zu dem unter Ziff. 1a.-m. angesetzten Pflegeaufwand geben keinen Anlass, an diesen Bewertungen etwas zu ändern. Die Sachverständige hat ihrer Ermittlung des Pflegebedarfs den täglichen Ablauf der Pflege des Klägers durch seine Eltern zugrunde gelegt. Dies ist auch entscheidend, denn gem. § 249 BGB ist der konkrete Schaden (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Aufl., vor § 249 Rz. 50; § 843 Rz. 2; jeweils m.w.N.), d.h. der tatsächliche Pflegeaufwand zu ersetzen, nicht aber ein abstrakter Pflegeaufwand, wie die Pflegeversicherung nach erfolgter Einstufung des Pflegebedürftigen in die Kategorien I, II oder III ihren Leistungen zugrunde legt. Aus diesem Grunde finden auch die Regelungen des SGB XI direkt keine Anwendungen ...