Entscheidungsstichwort (Thema)
Obliegenheitsverletzung bei Nutzung von Klickpedalen auch auf unebenen und unbefestigten Feldwegen ("Cross-Country-Bereich") durch einen erfahrenen Mountainbikefahrer; Schmerzensgeld für schwerste, unfallbedingte Dauerschäden (komplette Querschnittslähmung unterhalb des 4. Halswirbels) eines 35-jährigen Radsportlers
Leitsatz (amtlich)
1. Wird die Klageschrift nicht an den für gerichtliche Verfahren bestimmten gesetzlichen Vertreter einer Gemeinde zugestellt, kann der darin liegende Zustellungsmangel gemäß § 189 ZPO dadurch geheilt werden, dass für die Gemeinde wirksam ein Prozessbevollmächtigter bestellt wird, der bereits zuvor in den Besitz des zuzustellenden Schriftstücks gelangt ist (BGH, Urteil vom 23.4.2020, III ZR 251/17)
2. Bei "jagdlichen Einrichtungen" i.S.v. § 26 Abs. LJagdG SH handelt es sich um sonderrechtsfähige Sachen, welche ihrer Beschaffenheit nach nur vorübergehend entsprechend ihrer jagdlichen Widmung an einem bestimmten Ort aufgestellt werden und im Eigentum des Revierinhabers bleiben. Bei dem Ziehharmonika-Heck, das auch der Schaffung von Ruhezonen für das Wild dienst, handelt es sich um eine "jagdliche Einrichtung"
3. Das Sichtfahrgebot gebietet es nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte (hier: quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht) einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, mit denen der Fahrer - bei Anwendung eines strengen Maßstabs - jedoch unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet (BGH, Urteil vom 23.4.2020, III ZR 251/17, Rn. 37)
4. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stellt keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.
5. Eine Geschwindigkeit von bis zu 16 km/h und die Nutzung von Klickpedalen auf einem unebenen und unbefestigten Feldweg ("Cross-Country-Bereich") stellen grundsätzlich keine Obliegenheitsverletzung eines erfahrenen Mountainbikefahrers dar. Die als Werkseinstellung übliche "mittlere Einstellung" der Federspannung ist auch für den Einsatz im Cross-Country-Bereich nicht zu beanstanden.
6. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,00 EUR ist für schwerste, unfallbedingte Dauerschäden (komplette Querschnittslähmung unterhalb des 4. Halswirbels) eines 35-jährigen Radsportlers angemessen. Trotz Mindestvorstellung des Geschädigten sind dem Tatrichter nach oben hin keine Grenzen gesetzt. Infolge einer deutlich über 2% liegenden Inflationsrate und banküblichen Negativzinsen muss die Zumessung eines Kapitalbetrages unter den derzeitigen Kapitalmarktbedingungen zu einer generellen Erhöhung führen.
Anmerkung der Redaktion: Mit Urteil vom 10.8.2017 war der Senat zunächst von einer 75 % Mitverschuldensquote des Klägers ausgegangen. Die dagegen vom Kläger am 24.8.2017 eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde bestätigte zwar die Haftung der Beklagten dem Grunde nach, wegen der Mitverschuldensquote (maximal 25 % zum Nachteil des Klägers wegen der Nutzung der Klickpedale) wurde die Sache jedoch mit BGH-Urteil vom 23.4.2020 (III ZR 251/17) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, §§ 254, 839-840; GG Art. 34
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 11.02.2016 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck geändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 06.12.2014 zu zahlen abzüglich am 10.12.2020 auf die Hauptforderung gezahlter 375.000,00 EUR und auf die Zinsen gezahlter 93.277,09 EUR.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger allen materiellen und weiteren immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 15.06.2012 gegen 17:30 Uhr im ... zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 13.382,74 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. - und zwar die Beklagten zu 1 und 2) ab dem 28.05.2015 und der Beklagte zu 3) ab dem 29.05.2015 - zu zahlen.
4. Die Kosten des Rechtsstreites einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens (BGH, III ZR 251/17) tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
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