Leitsatz (amtlich)
Quotierung bei beiderseitigem Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf "halbe Sicht". Schmerzensgeldbemessung bei schwersten Verletzungen und unfallbedingten Folgen; vorwerfbares defizitäres Regulierungsverhalten.
Normenkette
StVG §§ 7, 11, 17; StVO § 2 Abs. 2, § 3 Abs. 1 S. 5
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - das am 05.01.2018 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) 4.489,26 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. seit dem 13.12.2011 zu zahlen.
2) Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin zu 1) 180.000,00 EUR (Schmerzensgeld) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. seit dem 13.12.2011 zu zahlen.
3) Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) 70 % ihres zukünftigen materiellen Schadens sowie zukünftigen immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils der Klägerin zu 1) von 30 % aufgrund des Verkehrsunfallereignisses vom 23.05.2011 in M, F-W, Höhe Haus Nr. 16 zu erstatten, soweit kein Anspruchsübergang auf Dritte erfolgt ist.
4) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.475,80 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. seit dem 31.12.2013 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage der Klägerin zu 1) abgewiesen.
5) Auf die Klage der Klägerin zu 2) wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin zu 2) 218.908,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p. a. seit dem 29.02.2012 zu zahlen.
6) Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) 70 % aller weiteren kongruenten Aufwendungen für die Behandlung und Rehabilitation der Versicherten X aus dem Verkehrsunfall vom 23.05.2011 auf der Straße F-W, Höhe Haus Nr. 16 in M zu ersetzen.
7) Die Kosten des Rechtsstreits im ersten Rechtszug trägt die Beklagte, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des ehemaligen Beklagten zu 2), die die Klägerin zu 2) trägt.
Von den Gerichtskosten im zweiten Rechtszug trägt die Beklagte 80 %, die Klägerin zu 1) 10 % und die Klägerin zu 2) 10 %.
Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1) im zweiten Rechtszug trägt die Beklagte 90 %. Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten im zweiten Rechtszug tragen die Klägerin zu 1) 10 % und die Klägerin zu 2) 11 %. Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten im Berufungsrechtszug selbst.
8) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die jeweils andere Partei gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Dem Rechtsstreit zugrunde liegt ein Verkehrsunfall vom 23.05.2011 gegen 10.35 Uhr auf der Straße "F-W" zwischen den Ortschaften N und M.
Unfallbeteiligt waren die am 00.00.1988 geborene Klägerin mit ihrem Motorrad X, amtl. Kennzeichen XX-XX YYY, und der im Laufe des ersten Rechtszuges verstorbene ehemalige Beklagte zu 2) als Führer eines landwirtschaftlichen Zuges (Schlepper und Muldenkipper, bestehend aus einem Traktor F, amtl. Kennzeichen Y, und einem Muldenkipper des Herstellers Brandner, amtl. Kennzeichen Y), gehalten von der Beklagten (X)
Zweitinstanzlich streiten die Parteien (noch) um den auf die Klägerin entfallenden Mitverursachungsanteil sowie um die Höhe des Schmerzensgeldes.
Die Klägerin, Mutter einer zum Unfallzeitpunkt knapp 7 1/2-jährigen Tochter, war - und ist immer noch - als Studentin an der Fachhochschule in Flensburg eingeschrieben (Verfahrenstechnik). Sie war seinerzeit auf dem Weg zum Studienort.
Auf der nur 3,1 m breiten Straße "F-W" begegneten sich die beteiligten Fahrzeuge im Zuge einer - aus Sicht der Klägerin zu 1) - Rechtskurve in Höhe des Hauses Nr. 16 im Gegenverkehr.
Die Klägerin kollidierte zwar nicht frontal mit dem landwirtschaftlichen Gespann, es kam jedoch zur Kollision im linken hinteren Bereich des Muldenkippers, dort zum einen mit den Reifen der Tandem-Achse, zum anderen mit einem hervorstehenden Hydraulikzylinder.
Die Klägerin zu 2) ist der gesetzliche Unfallversicherer der Klägerin zu 1) und insofern eintrittspflichtig, als es sich um einen Wegeunfall handelt.
Die Klägerin erlitt bei der Kollision und dem nachfolgenden Sturz schwerste Verletzungen, und zwar:
- eine traumatische subtotale Amputation des linken Armes mit Abriss der Arteria und Vena subclavia, ein Ausriss des Arm-Nervengeflechts (Plexus brachialis), einen Abriss der gesamten vorderen Schultermuskulatur mit ausgeprägtem Weichteilschaden, eine offene Humeruss...