1. Kein gerichtliches Verfahren
Rz. 17
Außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens wird der Anwalt tätig, wenn er keinen unbedingten Klageauftrag oder sonstigen Verfahrensauftrag hat. Denn schon mit dem Auftrag beginnt die auf den Rechtsstreit bezogene Tätigkeit, die den Anspruch auf die Verfahrensgebühr begründet (z.B. VV 3100, 3101 Nr. 1).
Rz. 18
Eine sinngemäße Anwendung der für die Gerichtsgebühren geltenden Vorschriften scheidet aus, soweit das RVG davon abweichende Regelungen enthält. Es gilt dann der Auslegungsgrundsatz "lex specialis derogat legi generali" (das speziellere Gesetz verdrängt die allgemeineren Gesetze).
Beispiel 1: Die Hebegebühr ist nach VV 1009 nicht nach dem Gesamtbetrag zu berechnen, sondern nach den ausgezahlten Beträgen (nach § 48 Abs. 1 S. 1 GKG, § 2 ZPO wäre der beantragte Gesamtbetrag – der Wert des Streitgegenstands – maßgebend).
Beispiel 2: Im Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entspricht der Geschäftswert nach VV 3335 dem Wert der Hauptsache, obwohl es nur um die Freistellung des Hilfsbedürftigen von den Prozesskosten geht. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 GKG, § 6 ZPO wäre deren Wert als Forderung – Kosten der Rechtsverfolgung oder -verteidigung – wertbestimmend.
Rz. 19
Durch den Verweis in § 23 Abs. 1 S. 4 wird der in § 22 Abs. 2 S. 2 festgeschriebene Grenzwert auf außergerichtliche Verfahren übertragen, die Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein könnten.
2. Abgrenzungskriterium
Rz. 20
Die für das Gericht geltenden Streitwertvorschriften sind aber nur dann sinngemäß anwendbar, wenn der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit auch Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein könnte. Die Abgrenzung bereitet im Einzelfall erfahrungsgemäß oft Schwierigkeiten. Diese lassen sich mit der richtigen Fragestellung bewältigen. Sie lautet: "Hat der Mandant einen materiell-rechtlichen Anspruch auf das, was er mit Hilfe des Anwalts erreichen will?"
Es geht also schlicht darum, ob eine materiell-rechtliche Anspruchsnorm für das Begehren des Mandanten zu finden ist. Wird das bejaht, dann könnte es zum Prozess kommen, weil die Möglichkeit besteht, den Gegner durch Anrufung des Gerichts zu zwingen, den Anspruch anzuerkennen oder zu erfüllen.
a) Mögliches gerichtliches Verfahren
Rz. 21
Beispiel 1: Der Anwalt fordert den Schuldner auf, die Miete oder den Kaufpreis oder Schadensersatz an den Gläubiger zu zahlen.
Zahlt dieser nicht, kann er auf Leistung verklagt werden. Es kommt dabei nur auf die objektive Möglichkeit eines Prozesses an. Sie besteht auch, wenn der Mandant den Anwalt anweist, auf keinen Fall zu klagen. Der Mandant könnte es sich jederzeit anders überlegen.
Beispiel 2: A und B sind Miterben. Zur Erbmasse gehört ein bebautes Grundstück. A beauftragt einen Anwalt mit Verhandlungen über eine von A vorgeschlagene einverständliche Auseinandersetzung.
Der Teilungsvorschlag des A kann nach § 2042 BGB Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens, nämlich einer Erbteilungsklage, werden.
Die Regelung findet auf sozialrechtliche Widerspruchsverfahren ebenfalls Anwendung, denn die Anfechtung belastender oder Verteidigung begünstigender Verwaltungsakte als Gegenstand des Widerspruchsverfahrens kann auch Gegenstand in einem Anfechtungsklageverfahren sein. In öffentlich-rechtlichen Verfahren kann es für die Ermittlung des Gegenstandswerts im Vorverfahren nach der Systematik des RVG in dieser Konstellation nur darauf ankommen, wie der Streitwert in einem gedachten gerichtlichen Verfahren festzusetzen wäre. Das Gesetz geht erkennbar davon aus, dass die Bestimmung des Werts bei demselben Gegenstand im vorgerichtlichen und gerichtlichen Verfahren nach denselben Regeln erfolgt (vgl. VV Vorb. 3 Abs. 4).
Hintergrund des Verweises auf die Wertvorschriften für das gerichtliche Verfahren in § 23 Abs. 1 S. 3 ist gerade die Sicherstellung, dass bei einer eventuell nach VV Vorb. 3 Abs. 4 erforderlichen Anrechnung der Gegenstandswert nicht nach unterschiedlichen Regelungen bestimmt werden muss.
b) Nicht mögliches gerichtliches Verfahren
Rz. 22
Beispiel: Der Anwalt soll für den Mandanten einen Vertrag oder Allgemeine Geschäftsbedingungen entwerfen bzw. überprüfen.
Ein solcher Auftrag kann nicht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Dritten sein. Denkbar wäre nur eine Klage gegen den Anwalt auf Erfüllung dieses Auftrags. Doch dann wäre eine Anspruchsgrundlage gegeben: der Anwaltsvertrag, § 675 BGB.
Rz. 23
Unanwendbar ist Abs. 1 S. 3, wenn der Gegner des Mandanten zu freiwilligen Leistungen veranlasst werden soll.
Beispiel: Ein Käufer schuldet dem Verkäufer den Kaufpreis. Er beauftragt einen Anwalt, mit dem Verkäufer über eine Stundung oder über eine vergleichsweise Ermäßigung der Schuld zu verhandeln. Einen materiell-rechtlichen Anspruch auf dieses Stundungsbegehren oder den Abschluss eines Vergleichsvertrags gibt es nicht. Das Begehren des Schuldners ließe sich nicht durch eine Klage ...