Lotte Thiel, Norbert Schneider
Rz. 222
Jeder Verfahrensbeteiligte kann auf das Recht der Beschwerde verzichten. Damit wird die an sich anfechtbare Instanzentscheidung formell rechtskräftig. Hingegen darf eine Zustimmung zur Wertfestsetzung nicht ohne Weiteres als Rechtsmittelverzicht ausgelegt werden.
Rz. 223
Umstritten ist, ob das Beschwerderecht wegen Verzichts entfällt, wenn der Streitwert "auf übereinstimmenden Antrag" festgesetzt wird oder die im Termin Anwesenden auf eine Begründung des Festsetzungsbeschlusses verzichten.
Beides ist entgegen einer verbreiteten Rechtsprechung zu verneinen. Ein Rechtsmittelverzicht setzte nach § 514 ZPO a.F. voraus, dass bereits eine rechtsmittelfähige Entscheidung existent geworden war. Wie es sich nach neuem Recht verhält, ist unklar. Im Erkenntnisverfahren kann nunmehr in jeder Instanz schon vor der Verkündung des Urteils ein wirksamer Rechtsmittelverzicht erklärt werden (§§ 313a Abs. 2, 3, 525 ZPO). Für das Beschwerdeverfahren fehlt eine gesetzliche Regelung. Entsprechend dem aus der Methodenlehre bekannten "argumentum a maiore ad minus", einem Spezialfall der Analogie, ist heute ein Beschwerdeverzicht als wirksam anzusehen, auch wenn noch kein rechtsmittelfähiger Beschluss ergangen ist.
Rz. 224
Gerade unter diesen Voraussetzungen ist es aber unerlässlich, dass der Rechtsmittelverzicht eindeutig erklärt und auch gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 9 ZPO protokolliert wird. Unterbleibt das, dann folgt aus der Beweiskraft des Protokolls (§ 165 ZPO), dass kein Verzicht erklärt worden ist.
Rz. 225
Eine gegenteilige Feststellung ohne Rückfrage nach § 139 ZPO mit den Anwälten zu treffen, ist auch haftungsrechtlich völlig unangemessen. Ein Anwalt, der ohne Belehrung seiner Partei einen möglicherweise benachteiligenden Rechtsmittelverzicht erklärt, verletzt schuldhaft den Mandatsvertrag. Er müsste den Mandanten vorher auf das Risiko eines solchen Verzichts hinweisen, damit dieser die ihm obliegende Entscheidung treffen könnte. Sonst macht sich der Anwalt regresspflichtig. Er müsste sogar den Mandaten darüber belehren, dass er sich diesem gegenüber durch den Rechtsmittelverzicht möglicherweise schadensersatzpflichtig gemacht hat.
Darüber einfach hinwegzugehen und den Parteien und ihren Anwälten ohne Hinweis oder Rückfrage nach § 139 ZPO durch einen Beschluss zu offenbaren, sie hätten wegen übereinstimmenden Antrags- oder Begründungsverzichts auf ihr Beschwerderecht verzichtet, verletzt den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
Ein solches Verfahren verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewährung eines fairen Verfahrens. Dieses Recht ist in BVerfGE 78, 126 wie folgt umschrieben worden:
Zitat
"Aus dem Rechtsstaatsprinzip wird als "allgemeines Prozeßgrundrecht" der Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet (BVerfGE 57, 275). Der Richter muß das Verfahren so gestalten, wie die Parteien des Zivilprozesses es von ihm erwarten dürfen: Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten (BVerfGE 69, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfGE 51, 192; 60, 6; 75, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 38, 111 ff.; 40, 98 f.; 46, 210)."
Rz. 226
Den Verkehrsanwalt (VV 3400) betrifft diese Streitfrage nicht. Auch wenn die Parteien sich in der mündlichen Verhandlung mit einem bestimmten Streitwert einverstanden erklärt haben und dies als Verzicht gewertet wird, verliert er mangels Beteiligung nicht sein Beschwerderecht.