Lotte Thiel, Norbert Schneider
Rz. 1
Berechnen sich die Rechtsanwaltsgebühren in einem gerichtlichen Verfahren nicht nach dem für die Gerichtsgebühren maßgebenden Wert oder fehlt es an einem solchen Wert, dann kann es zu der grundsätzlich nach § 32 Abs. 2 zu beachtenden Bindungswirkung nicht kommen. Insoweit die Bindungswirkung nach § 32 Abs. 2 für den Rechtsanwalt ausscheidet, ermöglicht Abs. 1 dem Rechtsanwalt, zu einer Festsetzung eines Gegenstandswerts für die Berechnung der Gebühren seiner Tätigkeit zu gelangen. Ein Antrag auf Wertfestsetzung nach Abs. 1 ist daher zulässig, wenn
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sich die Gerichtsgebühren in einem gerichtlichen Verfahren nicht nach dem Wert richten und es deshalb an einem entsprechenden Wert fehlt, weil im gerichtlichen Verfahren
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Festgebühren oder |
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gar keine Gebühren erhoben werden, |
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das RVG eine von den Kostengesetzen abweichende Wertfestsetzung für die Tätigkeit des Anwalts im gerichtlichen Verfahren vorsieht, z.B. gemäß
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§ 23 Abs. 1 S. 2, |
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§ 23 Abs. 2, 3, |
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§§ 23a–41a, |
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Gebührentatbestände beim Anwalt ausgelöst werden, die sich nicht nach dem (gesamten) Wert des gerichtlichen Verfahrens richten (vgl. §§ 31, 31a). |
I. Antragsrecht
Rz. 2
Insoweit derselbe Verfahrensgegenstand betroffen ist, ist nur ein Antragsrecht für die Festsetzung des Werts für die anwaltliche Tätigkeit gegeben und zwar entweder nach § 32 Abs. 2 S. 1 oder nach Abs. 1.
Rz. 3
Gibt es eine für die Gerichtsgebühren maßgebende Bewertung, die auch auf die anwaltliche Tätigkeit anwendbar ist, dann gilt § 32; gibt es sie nicht, gilt § 33. Besteht das Festsetzungsrecht nach § 33, dann fehlt das Rechtsschutzbedürfnis dafür, gegen eine gerichtliche Festsetzung des Werts anzugehen. Sie wäre für die anwaltliche Tätigkeit nicht bindend, weil die insoweit nicht erfasste Tätigkeit nicht danach abgerechnet werden könnte. Antragsrechte nach § 32 Abs. 2 S. 1 oder § 33 Abs. 1 stehen demnach, soweit derselbe Verfahrensgegenstand betroffen ist, im Verhältnis der Exklusivität zueinander, können aber dann, wenn unterschiedliche Gebührentatbestände nach verschiedenen Werten ausgelöst werden, auch nebeneinander bestehen. Dies kommt zum Beispiel in Stufenverfahren vor (siehe Rdn 4).
Rz. 4
Beispiel: Der Rechtsanwalt vertritt den unterlegenen Auftraggeber in einem Stufenverfahren vor dem FamG. Der Wert für die Gerichtsgebühren wird entsprechend der Erwartung des Antragstellers die Leistungsstufe betreffend auf insgesamt 4.000 EUR festgesetzt. Nach Verhandlung über die Auskunftsstufe wird das gesamte Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Die Verfahrensgebühr nach VV 3100 richtet sich nach dem für die Gerichtsgebühren maßgeblichen Wert in Höhe von 4.000 EUR. Die Terminsgebühr ist nur nach dem Wert der Auskunft zu bemessen, deren Wert nach Abs. 1 gesondert beantragt werden kann.
II. Anwendungsbereich
Rz. 5
Grundsätzlich ist die Wertfestsetzung für die Gerichtsgebühren auch für die Gebühren des Rechtsanwalts maßgeblich (§§ 32 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 1). Zunächst ist deshalb zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 vorliegen. Wird der für die Gerichtsgebühren maßgebliche Wert gerichtlich festgesetzt, so ist der Wert auch für die Anwaltsgebühren maßgeblich, wenn sich die Gebühren des Anwalts grundsätzlich nach dem Wert berechnen. Eine Wertfestsetzung nach Abs. 1 kommt in diesem Fall nicht in Betracht und ist auch nicht (mehr) erforderlich, wenn die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts von der gerichtlichen Wertfestsetzung bereits erfasst worden ist.
Rz. 6
Die Maßgeblichkeit der für die Gerichtsgebühren geltenden Vorschriften für die Anwaltsvergütung (§ 23 Abs. 1 S. 1) und die Bindungswirkung einer Festsetzung des gerichtlichen Werts (§ 32 Abs. 1) setzen voraus, dass es Wertvorschriften gibt, die auf die anwaltliche Tätigkeit passen. Das ist aber häufig nicht der Fall.
Beispiel 1: Zwei anwaltlich selbstständig vertretene Notgeschäftsführer einer GmbH werden auf Unterlassung verklagt, sich der Geschäftsführung zu enthalten. Der für die Gerichtsgebühren maßgebende Streitwert beträgt nach § 39 Abs. 1 GKG zweimal 25.000 EUR, also 50.000 EUR. Der Wert der Tätigkeiten der Anwälte – jeweils 25.000 EUR – deckt sich nicht mit dem festgesetzten Gesamtwert.
Beispiel 2: Auf die Beschwerde der bedürftigen Partei wird ihr ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt. Im Beschwerdeverfahren fallen keine Gerichtsgebühren an, wohl aber nach VV 3500 Anwaltsgebühren.
Beispiel 3: Die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfeantrags der bedürftigen Partei wird zurückgewiesen. Jetzt fallen bei Gericht Festgebühren in Höhe von 66 EUR an (Nr. 1812 GKG-KostVerz., Nr. 1912 FamGKG-Kostverz., Nr. 19117 GNotKG-KostVerz.). Die Anwaltsgebühren berechnen sich dagegen gemäß § 23a Abs. 1 nach dem Wert, sodass eine Wertfestsetzung nach Abs. 1 zulässig und für die Abrechnung der Anwaltsgebühren erforderlich ist.