Lotte Thiel, Norbert Schneider
Rz. 57
"Vor der Entscheidung sind die Beteiligten zu hören" – so lautete bereits § 10 Abs. 2 S. 3 BRAGO. Diese Anweisung erklärte sich aus der Zeit, als die Gewährung rechtlichen Gehörs noch nicht als eine selbstverständliche Verfahrenspflicht angesehen wurde. Der Übernahme einer solchen ausdrücklichen Anweisung in § 33 bedurfte es bei dem gegenwärtigen Verfassungsverständnis nicht. Auch ohne eine dem § 10 Abs. 2 S. 3 BRAGO entsprechende Vorschrift ist im Wertfestsetzungsverfahren für die Rechtsanwaltsgebühren Art. 103 Abs. 1 GG zu beachten und rechtliches Gehör zu gewähren. Diese Schlussfolgerung lässt sich auch aus § 12a herleiten.
Rz. 58
Beteiligt sind am Festsetzungsverfahren außer dem Antrag stellenden Rechtsanwalt alle Antragsberechtigten (siehe Rdn 52 ff.). Welche Anforderungen dabei an die Gewährung rechtlichen Gehörs zu stellen sind, ist durch die Rechtsprechung des BVerfG geklärt.
Rz. 59
Die Verfahrensbeteiligten müssen sich über den gesamten Verfahrensstoff informieren können. Der Einzelne soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Deshalb muss das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung geben und ihre Äußerungen in Erwägung ziehen. Jede Partei muss sich zumindest einmal umfassend zur Sach- und Rechtslage äußern können.
Rz. 60
Der Umfang der Gewährung rechtlichen Gehörs entspricht dem Vorbringen, über das vom Gericht zu entscheiden ist. Zwischen Streitstoff und Gehörsgewähr besteht Deckungsgleichheit.
Rz. 61
Dafür, dass rechtliches Gehör gewährt wird, ist das Gericht verantwortlich; darauf dürfen die Beteiligten vertrauen. Kein am Verfahren Beteiligter ist verpflichtet, von sich aus nachzuforschen, ob von den anderen Verfahrensbeteiligten Schriftsätze oder Anlagen eingereicht oder Anträge gestellt worden sind. Vielmehr ist es die Pflicht des Gerichts, vor dem Erlass seiner Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche Gehör gewährt worden ist.
Die Anforderungen, die das BVerfG stellt, sind hoch. Wird nicht förmlich zugestellt, so hat das Gericht die Möglichkeit, durch Beifügen einer rückgabepflichtigen Empfangsbescheinigung zu überwachen, ob rechtliches Gehör gewährt worden ist. Unterbleibt dies und kann die Gehörsgewährung nicht in anderer Weise festgestellt werden – etwa dadurch, dass der Beteiligte auf das Beschwerdevorbringen schriftlich erwidert –, so ist dem Art. 103 Abs. 1 GG nicht genügt.
Rz. 62
Für die Verletzung des Gehörsrechts kommt es nur auf die Verursachung an, nicht auf ein Verschulden des Gerichts. Und zwar ist das Gericht insgesamt, also einschließlich der Geschäftsstelle dafür verantwortlich, dass dem Gebot des rechtlichen Gehörs entsprochen wird.
Rz. 63
Allerdings verlangt das BVerfG auch von den Beteiligten, nicht untätig zu bleiben. Wer es versäumt, sich vor Gericht Gehör zu verschaffen, kann keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen. Hat ein Beteiligter ausreichend Gelegenheit gehabt, sich zu äußern, diese Gelegenheit aber schuldhaft nicht genutzt, dann ist damit seinem Anspruch auf rechtliches Gehör entsprochen worden.
Rz. 64
Immer wieder wird von den Gerichten verkannt, dass sich der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch auf Rechtsausführungen erstreckt. Die Beteiligten sind befugt, sich zur Rechtslage zu äußern. Deshalb verstößt es gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn ein Gericht die Rechtsausführungen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis nimmt oder bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.
Rz. 65
Darüber hinaus wird Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte.
Rz. 66
Gehörsverletzungen wirken sich im gerichtlichen Verfahren schon dann beschwerend aus, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gehörsgewährung zu einer anderen, dem betroffenen Beteiligten günstigeren Entscheidung geführt hätte, wenn also die tatsächlich getroffene Entscheidung auf der Gehörsverletzung beruhen kann.
Rz. 67
Zum Abhilfeverfahren – Gehörsrüge – siehe § 12a.