Peter Fölsch, Norbert Schneider
Rz. 97
Die Vorschrift des Abs. 6 war bis zum 31.7.2013 in Abs. 5 enthalten. Durch die Einfügung des neuen Abs. 4 ist der frühere Abs. 5 lediglich um einen Absatz weiter nach hinten verschoben worden. Inhaltliche Änderungen haben sich dadurch aber nicht ergeben. Ältere Rechtsprechung zu Abs. 5 a.F. kann daher grundsätzlich weiterhin verwendet werden. Allerdings ist mit dem KostRÄG 2021 eine weitere Änderung vorgenommen worden, die eine Klarstellung zu Abs. 6 S. 3 enthält. Insoweit ist die gegenteilige frühere Rechtsprechung obsolet (siehe Rdn 131 ff.).
Rz. 98
Die Vorschrift des Abs. 6 betrifft ausschließlich den gerichtlich bestellten oder beiordneten Anwalt. Sie gilt insbesondere für den Pflichtverteidiger, aber auch für sonstige bestellte oder beigeordnete Anwälte, z.B. einen im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Nebenklagevertreter oder den Anwalt als Zeugenbeistand.
Rz. 99
Abs. 6 S. 1 enthält eine Rückwirkung der Bestellung oder Beiordnung im erstinstanzlichen Verfahren und ordnet an, dass sich die Bestellung bzw. Beiordnung auch auf vorangegangene Tätigkeiten in der ersten Instanz und auch auf Tätigkeiten im vorangegangenen Ermittlungsverfahren, bzw. Verwaltungsverfahren in Bußgeldsachen, erstreckt.
Rz. 100
Abs. 6 S. 2 regelt die Rückwirkung der Bestellung oder Beiordnung im Rechtsmittelverfahren. Diese Rückwirkung beschränkt sich im Gegensatz zu Abs. 6 S. 1 nur auf die Instanz selbst.
Rz. 101
Abs. 6 S. 3 wiederum regelt bestimmte Fälle der Rückwirkung bei Verbindung mehrerer Verfahren.
Rz. 102
Die Vorschrift des Abs. 6 S. 1 geht auf den früheren § 97 Abs. 3 BRAGO zurück. Die Regelungen in Abs. 6 S. 2 und 3 sind dagegen neu in das RVG aufgenommen worden.
Rz. 103
Sämtliche Vorschriften verlegen die Wirkung der Bestellung oder Beiordnung vor. Anders als in den Fällen der Prozesskostenhilfe für Verfahren nach VV Teil 3 (ausgenommen sozialgerichtliche Verfahren (siehe Abs. 4 S. 2), in denen grundsätzlich nur eine Vergütung aus der Landeskasse gezahlt wird, die nach Bestellung bzw. Beiordnung bzw. Antragstellung entstanden ist, kann in Verfahren nach VV Teil 4–6 auch eine Vergütung vor der Bestellung oder Beiordnung aus der Landeskasse zu zahlen sein.
Rz. 104
Die Rückwirkung gilt nicht nur für Gebühren, sondern auch für Auslagen. Dies folgt daraus, dass Abs. 6 ausdrücklich von "Vergütung" spricht und es sich nach der Legaldefinition in § 1 Abs. 1 hierbei sowohl um Gebühren als auch um Auslagen handelt.
Rz. 105
Fingiert wird nur ein früherer Zeitpunkt der Wirkung der Bestellung oder Beiordnung. Dagegen wird nicht eine anwaltliche Tätigkeit fingiert. Der Anwalt muss also zuvor als Wahlanwalt tätig geworden sein. Eine fiktive Vergütung kann er niemals erhalten.
Rz. 106
Der Wahlanwalt muss allerdings nicht in Person tätig gewesen sein. Es reicht aus, dass ein Vertreter aus dem Kreis des § 5 für ihn gehandelt hat. Das folgt daraus, dass der Vergütungsanspruch auch dem später beigeordneten Verteidiger zugestanden hätte, wenn von Seiten des Gerichts das Auftreten des Vertreters gebilligt worden wäre. Da der Vergütungsanspruch im Falle des § 5 dem Vertretenen und nicht dem Vertreter zusteht, ist die Vertretung insoweit unerheblich.
Rz. 107
Soweit der Anwalt von seinem Auftraggeber bereits Zahlungen für die Zeit vor der Bestellung, auf die sich die Rückwirkung nach Abs. 6 erstreckt, erhalten hat, ist § 58 zu beachten.
Rz. 108
Dagegen bleibt der bereits entstandene Anspruch gegen den Auftraggeber für die Zeit vor der Bestellung, auf die sich die Rückwirkung nach Abs. 6 erstreckt, grundsätzlich bestehen und kann ohne weiteres geltend gemacht werden. Er unterliegt nicht den Beschränkungen der §§ 52, 53. Nur im Falle der Prozesskostenhilfe kann der Anwalt seinen Auftraggeber nicht in Anspruch nehmen (§ 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO).
Rz. 109
Häufig werden die Vorschriften des § 45 Abs. 4 und des § 46 Abs. 3 im Zusammenhang mit Abs. 6 genannt. Diese Vorschriften haben jedoch einen ganz anderen Anwendungsbereich. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie die Reichweite einer Bestellung oder Beiordnung regeln. Sie erstrecken – im Gegensatz zu Abs. 6 – die Bestellung oder Beiordnung nicht rückwirkend, sondern auf nachfolgende Tätigkeiten. Insoweit wird auf die dortigen Kommentierungen Bezug genommen.