Lotte Thiel, Ass. jur. Sabrina Reckin
1. Meinungsstand
Rz. 5
Soweit früher von Braun vertreten wurde, dass die Gebühr nach VV 2300 aufgrund der Begrenzung durch einen Schwellenwert zwei Gebührenrahmen mit zwei Mittelgebühren enthalte, nämlich einen Gebührenrahmen von 1,3 bis 2,5 für eine umfangreiche oder schwierige Sache sowie einen Gebührenrahmen von 0,5 bis 1,3 mit einer Mittelgebühr von 0,9, wenn die Sache weder umfangreich noch schwierig sei, hat er diese Ansicht längst wieder aufgegeben.
Rz. 6
Nunmehr wird – soweit ersichtlich auch einheitlich – die Auffassung vertreten, dass es sich bei dem Gebührensatz von 1,3 um einen Schwellenwert handelt. Weder der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzessystematik lassen erkennen, dass der Gesetzgeber zwei verschiedene Gebührenrahmen hat einführen wollen. In der Gesetzesbegründung wird vielmehr ausgeführt, dass die Schwellengebühr zur Regelgebühr werden darf.
Rz. 7
Die Begrenzung auf den Schwellenwert von 1,3 war Ausdruck eines Kompromisses im Gesetzgebungsverfahren. Die Mittelgebühr des Gebührenrahmens von 0,5 bis 2,5 beträgt 1,5. Diese ursprünglich vorgesehene Mittelgebühr war bei der Versicherungswirtschaft auf Widerstand gestoßen, die vor allem bei der Unfallregulierung das Entstehen der Besprechungsgebühr vermeiden wollte. Mit Rücksicht darauf sah der Gesetzesentwurf zunächst eine Mittelgebühr von 1,5 mit der gleichzeitigen Einschränkung vor, dass eine Überschreitung dieser Gebühr nur in besonders umfangreichen oder besonders schwierigen Angelegenheiten überschritten werden sollte. Da die Begriffe "besonders umfangreich" und "besonders schwierig" jedoch bereits im Zusammenhang mit § 99 BRAGO bekannt waren, der die Pauschvergütung des Pflichtverteidigers regelte, und dort von der Rechtsprechung hohe Anforderungen gestellt wurden, hatte die Anwaltschaft sich dafür eingesetzt, das Wort "besonders" jeweils zu streichen. Dem ist entsprochen worden. Allerdings wurde im Gegenzug die Gebühr, die bei nicht schwierigen und nicht umfangreichen Angelegenheiten anfallen sollte, auf 1,3 herabgesetzt. Damit sollte jedoch keine Änderung in der Sache einhergehen. D.h., die so genannte Regel- oder Schwellengebühr sollte – wie sonst die Mittelgebühr – in durchschnittlich gelagerten Fällen eingreifen und dem Rechtsanwalt einen besonderen Begründungsaufwand ersparen. Insofern wurde die Mittelgebühr hinsichtlich der beiden, nach der Systematik des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes wichtigsten Kriterien (Umfang und Schwierigkeit der Sache) um 0,2 nach unten verschoben. Eine ausdrückliche Benennung als Mittelgebühr war nur deshalb nicht möglich, weil der Wert von 1,3 eben nicht das mathematische Mittel des Gebührenrahmens ist.
Rz. 8
Nur dies entspricht auch der allgemeinen Konzeption des RVG, mit dem unter anderem die anwaltliche Vergütung der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst werden sollte. Diesem Zweck kann das Gesetz nur gerecht werden, wenn die Abschaffung der Besprechungs- und Beweisaufnahmegebühr des § 118 BRAGO durch diejenige im Rahmen der VV 2300 mehr als nur kompensiert wird. Insofern fehlt ein Anhaltspunkt für die Annahme, dass es eine neue allgemeine Mittelgebühr von 0,9 in nicht umfangreichen oder schwierigen Sachen geben sollte.
Rz. 9
Die auf den ersten Blick systemwidrig wirkende Vorrangstellung der Kriterien "Umfang" und "Schwierigkeit" im Rahmen der Abwägung nach § 14 Abs. 1 erklärt sich aus der Herkunft der betreffenden Gebühr. Unter der Geltung von § 118 Abs. 1 BRAGO konnte der Anwalt für die außergerichtliche Vertretung jeweils Geschäfts-, Besprechungs- und Beweisaufnahmegebühr in Höhe von jeweils 5/10 bis 10/10 verdienen. Da diese drei Gebührentatbestände in einem einheitlichen Tatbestand mit weitem Rahmen aufgegangen sind, muss die Abwägung berücksichtigen, dass auch nach früherem Recht weder die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Mandanten noch die Bedeutung der Angelegenheit oder das Haftungsrisiko eine Gebühr von mehr als 10/10 rechtfertigen konnten. Diese Schwelle konnte vielmehr nur dann überschritten werden, wenn der Anwalt weitere Tätigkeiten, beispielsweise die Teilnahme an Besprechungen oder einer Beweisaufnahme vornahm.
Beispiel: Der Anwalt berät einen sehr wohlhabenden Mandanten im Hinblick auf Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gegen eine Zeitung, die Privatfotos des Mandanten veröffentlicht hat. Nach einer einstündigen Besprechung mit dem Mandanten fertigt er ein erstes kurzes Schreiben an die Gegenseite. Diese gibt sofort die begehrte Unterlassungserklärung ab und verpflichtet sich zur Schadensersatzzahlung.
Ohne die Kappungsgrenze würde der Anwalt aufgrund der überdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Mandanten und der hohen Bedeutung der pressewirksamen Angelegenheit eine Geschäftsgebühr oberhalb der Mittelgebühr von 1,5 abrechnen können.