Prof. Dr. Stephan Wolf, Bettina Spichiger
Rz. 123
Gehören ein oder beide Ehegatte(n) einer Einrichtung der beruflichen Vorsorge (2. Säule) an, werden die während der Ehe bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens erworbenen Ansprüche grundsätzlich ausgeglichen (Art. 122 ZGB). Der Vorsorgeausgleich bezweckt den Ausgleich von vorsorgerechtlichen Nachteilen der erfolgten Aufgabenteilung und die Förderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit jedes Ehegatten nach der Scheidung.
Ist kein Vorsorgefall eingetreten, so werden die während der Ehe erworbenen Austrittsleistungen – d.h. die Anwartschaften aus der beruflichen Vorsorge – samt Freizügigkeitsguthaben und allfälligen Vorbezügen hälftig geteilt (Art. 123 Abs. 1 ZGB). Auf schriftlichen Antrag hin haben deshalb die beteiligten Vorsorgeeinrichtungen in Anwendung insbesondere von Art. 22 ff. FZG für jeden Ehegatten die bei der Scheidung vorhandene Austrittsleistung zu berechnen und davon die im Zeitpunkt der Heirat bereits erworbene Austrittsleistung in Abzug zu bringen. Unter Vorbehalt von Sonderfällen (Art. 124b, 124d und 124e ZGB) steht die Hälfte der Austrittsleistung jedes Ehegatten dem anderen Ehegatten zu. Sofern beide Ehegatten Anrecht auf eine Austrittsleistung haben, ist nur der Differenzbetrag zu teilen. Dabei gilt es zu beachten, dass der berechtigte Ehegatte keine Barauszahlung erhält, sondern sich mit der Freizügigkeitsleistung neu in eine Vorsorgeeinrichtung einkaufen bzw. eine Aufstockung des bereits bestehenden Versicherungsschutzes vornehmen muss. Eine Barauszahlung kann die anspruchsberechtigte Person nur unter den Voraussetzungen von Art. 5 FZG verlangen.
Rz. 124
Ist ein Vorsorgefall eingetreten – werden mithin Alters- oder Invalidenrenten bezogen –, so findet der Ausgleich nach den besonderen Regeln von Art. 124 f. ZGB statt. Bezieht ein Ehegatte im Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens eine Invalidenrente vor Erreichen des reglementarischen Rentenalters, so ist die hypothetische Austrittsleistung, auf welche der versicherte Ehegatte nach Aufhebung der Invalidenrente Anspruch hätte, zu teilen (Art. 124 ZGB). Bezieht ein Ehegatte im Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens eine Invalidenrente nach Erreichen des reglementarischen Rentenalters oder eine Altersrente, so entscheidet das Gericht nach Ermessen über die Teilung der Rente; es beachtet dabei insbesondere die Dauer der Ehe und die Vorsorgebedürfnisse beider Ehegatten (Art. 124a ZGB).
Rz. 125
Ausnahmsweise können die Ehegatten in einer Vereinbarung von der hälftigen Teilung abweichen oder auf den Vorsorgeausgleich verzichten, wenn eine angemessene Alters- und Invalidenvorsorge gewährleistet bleibt (Art. 124b Abs. 1 ZGB; vgl. auch Art. 280 Abs. 3 ZGB). Das Gericht spricht dem berechtigten Ehegatten weniger als die Hälfte der Austrittsleistung zu oder verweigert die Teilung ganz, wenn wichtige Gründe vorliegen (Art. 124b Abs. 2 ZGB). Es kann dem berechtigten Ehegatten mehr als die Hälfte zusprechen, wenn er Kinder betreut und der verpflichtete Ehegatte weiterhin über eine angemessene Alters- und Invalidenvorsorge verfügt (Art. 124b Abs. 3 ZGB).
Rz. 126
Ist aufgrund einer Abwägung der Vorsorgebedürfnisse beider Ehegatten ein Ausgleich aus Mitteln der beruflichen Vorsorge nicht zumutbar, so schuldet der verpflichtete Ehegatte dem berechtigten Ehegatten eine Kapitalabfindung (Art. 124d ZGB). Ist ein Ausgleich aus Mitteln der beruflichen Vorsorge nicht möglich, so schuldet der verpflichtete Ehegatte dem berechtigten Ehegatten eine angemessene Entschädigung in Form einer Kapitalleistung oder einer Rente (Art. 124e Abs. 1 ZGB). Ein schweizerisches Urteil kann auf Begehren des verpflichteten Ehegatten abgeändert werden, wenn im Ausland bestehende Vorsorgeansprüche durch eine angemessene Entschädigung nach Absatz 1 ausgeglichen wurden und diese Vorsorgeansprüche danach durch eine für den ausländischen Vorsorgeschuldner verbindliche ausländische Entscheidung geteilt werden (Art. 124e Abs. 2 ZGB).
Rz. 127
Der geschiedene Ehegatte hat nach dem Tod seines früheren Ehegatten grundsätzlich Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente der Pensionskasse, wenn die Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat und ihm im Scheidungsurteil eine Rente nach Art. 124e Abs. 1 oder Art. 126 Abs. 1 ZGB zugesprochen wurde (Art. 19 Abs. 3 BVG i.V.m. Art. 20 BVV 2). Dies gilt auch dann, wenn sich der Verstorbene wieder verheiratet hatte und eine weitere anspruchsberechtigte Person hinterlässt.