Prof. Dr. Stephan Wolf, Andrea Dorjee-Good
Rz. 205
Die Bestimmungen der Art. 556–559 ZGB enthalten Regelungen für den Fall, dass im Erbgang eine Verfügung von Todes wegen vorhanden ist.
Rz. 206
Art. 556 ZGB sieht vorab eine allgemeine Pflicht zur Einlieferung letztwilliger Verfügungen (Testamente) vor. Einzuliefern sind sämtliche Dokumente, die inhaltlich als Testamente erscheinen. Über den sich auf letztwillige Verfügungen beschränkenden Wortlaut des Gesetzes (Art. 556 Abs. 1 ZGB) hinaus ist mit der neueren Lehre eine Einlieferungspflicht auch für Erbverträge zu bejahen. In personeller Hinsicht ist die Einlieferungspflicht weit auszulegen, d.h. sie besteht für jedermann, der eine Verfügung von Todes wegen findet (vgl. Art. 556 Abs. 2 ZGB). Insofern handelt es sich um eine allgemeine Bürgerpflicht.
Rz. 207
Die Eröffnung der Verfügung von Todes wegen (Art. 557 ZGB) besteht in der Kundgabe des Inhaltes durch die Behörde. Zu eröffnen sind neben Testamenten auch Erbverträge. Die Eröffnung der Verfügung von Todes wegen (Art. 557 ZGB) bzw. die Mitteilung an die Beteiligten (Art. 558 ZGB) ist Voraussetzung für die Ausstellung des Erbenscheins an die eingesetzten Erben (vgl. Art. 559 Abs. 1 ZGB).
Rz. 208
Der Erbenschein ist eine behördliche Bescheinigung darüber, dass bestimmte Personen unter Vorbehalt der erbrechtlichen Klagen als einzige Erben des Erblassers anerkannt sind (vgl. Art. 559 Abs. 1 ZGB). Über die in Art. 556–559 ZGB anvisierten testamentarisch eingesetzten Erben hinaus besteht ein Bedürfnis nach Ausstellung eines Erbenscheins als Legitimationsausweis bezüglich der Erbberechtigung ebenso für Erbvertragserben und gesetzliche Erben. Insbesondere verlangt Art. 65 Abs. 1 lit. a GBV für sämtliche Erben – unabhängig davon, ob sie von Gesetzes wegen oder durch Testament oder Erbvertrag berufen sind – einen Erbenschein als Ausweis über den Eigentumsübergang an Grundstücken. Mit der Praxis und der neueren Lehre ist folgerichtig ein bundesrechtlicher Anspruch aller Erben auf Ausstellung eines Erbenscheins zu bejahen. Je nachdem, ob gesetzliche Erben, eingesetzte Testamentserben oder Erbvertragserben vorhanden sind, bestehen im Einzelnen unterschiedliche Voraussetzungen für die Ausstellung des Erbenscheins. Bei eingesetzten Erben ist stets erforderlich, dass innerhalb der Monatsfrist seit Eröffnung der Verfügung bzw. Mitteilung seitens der gesetzlichen Erben oder der aus einer früheren Verfügung Bedachten keine Bestreitung der Berechtigung erfolgt ist (Art. 559 Abs. 1 ZGB).
Rz. 209
Der Erbenschein stellt für die darin anerkannten Erben einen bloß provisorischen Legitimationsausweis dar, der unter dem Vorbehalt des materiellen Erbrechts steht. Er ist insofern von bloß deklaratorischer Natur, öffnet aber den darin anerkannten Erben weitgehend die Tür, indem er Verfügungen über Grundstücke (vgl. Art. 65 Abs. 1 lit. a GBV), Guthaben und Wertschriften bei Banken, Forderungen etc. ermöglicht.
Rz. 210
Für die Ausstellung des Erbenscheins ist grundsätzlich die Eröffnungsbehörde zuständig (vgl. Art. 551 Abs. 1 ZGB). Diese wird durch das kantonale Recht bestimmt; je nach Kanton und der im Einzelfall gegebenen Situation werden Erbenscheine durch Gerichts- bzw. Verwaltungsbehörden oder Notare ausgestellt.
Rz. 211
Im internationalen Verhältnis wird ein schweizerischer Erbenschein i.S.v. Art. 559 ZGB nur dann ausgestellt, wenn schweizerische Behörden für die Nachlassabwicklung zuständig sind.