Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander. Sozialhilfe. Vorrang der Eingliederungshilfe vor der Jugendhilfe bei mehrfach behindertem Kind. ambulant betreutes Wohnen. Hilfe für junge Volljährige. spezialgesetzlicher Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Leistungsträgers gem § 14 Abs 4 S 1 SGB 9
Orientierungssatz
1. Für die Frage, welcher Sozialleistungsträger bei einer Mehrfachbehinderung in Form geistiger und seelischer Störungen vorrangig leistungsverpflichtet ist, kommt es nicht darauf an, wo der Schwerpunkt des Bedarfs und der erbrachten Hilfe liegt. Entscheidend für die Anwendung des § 10 Abs 4 S 2 SGB 8, der den Vorrang der Sozialhilfe gegenüber der Jugendhilfe bestimmt, ist, dass sowohl ein Anspruch des Hilfeempfängers auf Leistungen der Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bestanden hat und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl BVerwG vom 23.9.1999 - 5 C 26/98 = BVerwGE 109, 325 und LSG Darmstadt vom 18.2.2008 - L 9 SO 44/07).
2. Der Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für das ambulant betreute Wohnen ergibt sich aus § 14 Abs 4 SGB 9 iVm § 10 Abs 4 S 2 SGB 8.
3. § 14 Abs 4 S 1 SGB 9 als spezialgesetzliche Erstattungsvorschrift geht den allgemeinen Erstattungsregelungen der §§ 102ff SGB 10 vor (vgl BSG vom 20.4.2010 - B 1/3 KR 6/09 R = SozR 4-3250 § 14 Nr 12).
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die im Hilfefall N. C. für die Hilfe vom 01.07.2005 bis 30.06.2009 entstandenen Kosten in Höhe von 101.622,03 EUR zu erstatten und darauf Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.12.2009 zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Der Streitwert wird auf 101.622,03 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die Erstattung der für einen Hilfeempfänger (HE) für die Zeit vom 01.07.2005 bis 30.09.2009 erbrachten Aufwendungen in Höhe von 101.622,03 EUR.
Der am 00.00.0000 geborene HE und sein älterer Bruder wurden seit 1991 von der Klägerin als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe wegen Verwahrlosungstendenzen, die in der Familie aufgefallen waren, betreut; ein erzieherischer Einfluss der Eltern war nicht vorhanden. Der HE wurde zunächst vom Schul(pflicht)besuch zurückgestellt. Ab September 1996 besuchte er einen Kinderhort.
Auf Antrag der Eltern bewilligte und gewährte die Klägerin dem HE ab 02.01.1997 Hilfe zur Erziehung in Form von Heimerziehung im Kinder- und Jugendheim "N.". In den Berichten aus Januar 1999 und 2000 wurde von Sozialverhaltens- und Entwicklungsstörungen (u.a. Einnässen/Einkoten) des HE berichtet. Im Oktober 1999 diagnostizierte die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der RWTH Aachen eine leichte Intelligenzminderung (geistige Behinderung) des HE. Im Februar 2000 bescheinigte Dr. U. (Gesundheitsamt der Klägerin) bei dem HE eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Leistungsverweigerung, erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und eine Lernbehinderung. In einem Bericht vom 11.07.2005 stellte das Gesundheitsamt (Dr. U.) fest, bei dem HE bestehe eine "wesentliche geistige Behinderung" bei einem Intelligenzquotienten unter 70; aufgrund der allgemeinen und auch insbesondere psychoemotionalen Entwicklungsstörung sei die weitere Betreuung im Kinderheim "N." als geeignete Maßnahme anzusehen. Seit Oktober 2005 besuchte der HE auch eine Werkstatt für Behinderte, die bei ihm eine geistige Behinderung feststellte.
Am 20.10.2005 machte die Klägerin unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Gesundheitsamtes vom 11.07.2005 beim Beklagten einen Erstattungsanspruch geltend. Sie vertrat die Auffassung, der HE gehöre zum Personenkreis der Eingliederungshilfeberechtigten nach dem Sozialhilferecht; es sei bei ihm eine geistige Behinderung festgestellt worden; die Leistungen der Sozialhilfe (Eingliederungshilfe) kämen immer dann vorrangig zum Tragen, wenn die Voraussetzungen aufgrund einer geistigen Behinderung vorlägen. Am 15.11.2005 attestierte der Kinder- und Jugendarzt H., dass für den HE "aufgrund geistiger Behinderung und Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung" ein amtlicher Betreuer notwendig sei. Durch Bescheid vom 16.03.2007 stellte das Versorgungsamt das Vorliegen einer geistigen Behinderung beim HE und einen dadurch bedingten Grad der Behinderung von 80 fest. Zum 31.03.2007 wurde der (inzwischen volljährige) HE aus dem Kinderheim entlassen.
Mit Schreiben vom 22.03.2006 lehnte der Beklagte das Erstattungsbegehren der Klägerin ab. Zur Begründung führte er aus, seine sachliche Zuständigkeit wäre gegeben, wenn unter Berücksichtigung des Alters des HE eine wesentliche dauerhafte geistige oder körperliche Behinderung vorliegen würde. Zwar sei im Gutachten des Gesundheitsamtes vom 11.07.2005 eine Intelligenz mit einem IQ unter 70 festgestellt, wonach eine wesentliche geistige Behinderung vorliege, und es sei darauf aufmerksam gemacht worden, dass aufgrund der Behinderung...